© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/02 15. November 2002

 
Der Hoffnung letzte Instanz
Die Arbeit des Suchdienstes des Deutschen Roten Kreuzes und des Kirchlichen Suchdienstes wird nach 57 Jahren durch den Bund der Vertriebenen honoriert
Michael Paulwitz

Der Brief aus der Vergangenheit erreichte die alte Dame wenige Wochen nach ihrem 85. Geburtstag. Das Schicksal ihres 1945 in Rußland vermißten Ehemannes sei jetzt aufgeklärt, teilte man ihr mit. Aus Dokumenten, die die russische Seite jetzt zur Verfügung gestellt habe, gehe eindeutig hervor, daß Robert K. im Sommer 1945 in einem Gefangenenlager an der Wolga den Tod gefunden habe. Sogar das exakte Sterbedatum nannte das Schreiben - es wich um wenige Tage vom Datum der amtlichen Toterklärung ab, die aufgrund der Zeugenaussage von Kriegskameraden erfolgt war. Absender des Schreibens: Der Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes.

Etwa zehntausend solcher Briefe werden noch heute, mehr als ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende, alljährlich verschickt. Für zehntausende Ehefrauen, Geschwister, Kinder oder Enkel in Deutschland geht der Zweite Weltkrieg erst jetzt zu Ende: Mit einem nüchternen Brief vom Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes, der endlich Aufklärung bringt über das Los des vermißten Angehörigen. 21 Millionen Menschen, deren Lebensweg von Krieg, Gefangenschaft, Flucht, Vertreibung oder Verschleppung durcheinandergeworfen worden war, hat der Suchdienst seit den letzten Kriegsmonaten wieder zusammengeführt. 1,8 Millionen Schicksale von verschollenen Soldaten und Zivilgefangenen konnten aufgeklärt, das Los von 291.000 verlorenen, entwurzelten und namenlos gewordenen Kindern konnte der Ungewißheit entrissen werden. Für diese Leistung verleiht der Bund der Vertriebenen dem Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes, gemeinsam mit dem Kirchlichen Suchdienst, am diesjährigen Volkstrauertag seine höchste Auszeichnung.

Das organisierte Chaos wurde zum archivierten Mahnmal

Die Ursprünge der organisierten Suche nach den Vermißten, Untergegangenen und Überlebenden des großen Kriegssturmes liegen in den Wirren der letzten Kriegswochen. Die Keimzelle des Suchdienstes entstand als routinierte Improvisation zweier Offiziere: Helmut Schelsky - der spätere Soziologieprofessor - und der Mathematiker Kurt Wagner wollten dem Flüchtlingselend, das sich ihnen im April 1945 in der Marinestadt Flensburg darbot, nicht tatenlos zusehen; sie verschafften sich Zugang zu den Listen der über See evakuierten Flüchtlinge und gründeten eine "Zentral-Suchkartei". Die Idee sprach sich herum - schließlich war bei Kriegsende jeder vierte Deutsche ein Suchender oder Gesuchter. Der große Andrang machte schließlich im September den Umzug nach Hamburg als Suchdienst für die britische Zone erforderlich. Parallel entstand in München - von der Besatzungsmacht mißtrauisch beäugt und zeitweise verboten - eine Suchdienst-Zentrale für die amerikanische Zone. Erst im Dezember 1946 erlaubt die französische Besatzungszone die Einrichtung eines Suchdienstes im badischen Rastatt. Im Saarland, auf das Frankreich territoriale Begehrlichkeiten geworfen hat, wirkt die Besatzungsmacht auf eine separate Sucheinrichtung ein. Seit August 1946 besteht in Ostberlin eine Anlaufstelle für die sowjetische Besatzungszone.

In einer gemeinsamen Kanzelverkündigung rief die katholische und evangelische Kirche nach Kriegsende ihre Seelsorger dazu auf, die Namen der durch ihre Pfarreien hindurchziehenden Flüchtlinge, Vertriebenen und Versprengten zu erfassen und Meldungen über vermißte Angehörige aufzunehmen. Aus der spontanen Initiative entstand der "Kirchliche Suchdienst", der sich der vermißten Zivilpersonen aus den Vertreibungsgebieten im Osten und Südosten Europas annahm. Die Suchanträge wurden nicht nur nach Familiennamen, sondern auch nach Heimatorten erfaßt. Aus der spontanen Improvisation entstand eine Datensammlung, die bis heute zwanzig Millionen Menschen namentlich erfaßt hat. Aus den dezentral angelegten Karteien wurde, schrittweise zentralisiert und seit Ende 2000 in die beiden Heimatortskarteien Passau (zuständig für Schlesien und Sudetenland) und Stuttgart (Nord-, Südosteuropa, GUS-Staaten, Wartheland-Polen und die frühere DDR) aufgeteilt, das bis heute in Zusammenarbeit mit staatlichen Meldebehörden laufend aktualisierte "Einwohnermeldeamt der Vertreibungsgebiete".

Bis dahin war es freilich von den Anfängen im Chaos von Zusammenbruch und Neubeginn ein weiter Weg. Schritt für Schritt koordinierten DRK-Suchdienst und kirchliche Initiativen ihre Herkulesarbeit, gründeten Arbeitsgemeinschaften und organisierten die schwierige Zusammenarbeit über Zonengrenzen hinweg. Karteien wurden im Rucksacktransport auf überfüllten Zügen zusammengeführt und thematische Zuständigkeiten festgelegt. Längst reichte es nicht aus, jene zu erfassen, die selbst in die Büros kamen. Durch kontinuierliche Befragung von Heimkehrern, entlassenen Gefangenen, durchgeschleusten Vertriebenen wurden systematisch Daten gewonnen. Eine Schlüsselrolle kam dabei dem Büro in Friedland zu, das sofort nach Einrichtung des Lagers im September 1945 durch die britische Besatzungsmacht in dem Lager eröffnet wurde. Ostberliner Suchdienst-Mitarbeiter befragten täglich an den Frankfurter Oderbrücken die von den polnischen Behörden aus der Heimat gejagten Menschen. Mit der Verschärfung des Ost-West-Gegensatzes endete vorerst die zonenübergreifende Zusammenarbeit; die "Suchdienst-Arbeitsgemeinschaft" wurde im Mai 1948 aufgelöst.

Im Westen Deutschlands wurde die Sucharbeit nach der Gründung der Bundesrepublik gründlich reorganisiert. Die Zonenzentralen wurden umbenannt in "Suchdienst München" (zuständig für Ostvermißte und Kriegsgefangene), "Suchdienst Hamburg" (Aufgabenbereich: Zivilverschleppte und vermißte Kinder) und "Suchdienst Rastatt" - letzterer nahm sich der im Westen Vermißten an, bis auch diese Zuständigkeit später von München übernommen wurde.

Die Mitwirkung breiterer Kreise der Bevölkerung war jetzt gefragt. In Stuttgart konstituierte sich Anfang 1950 der "Verein zur Förderung des Suchdienstes", der die bis 1979 erscheinende "Suchdienst-Zeitung" herausgab. Am 14. Februar 1950 ruft Bundespräsident Heuss persönlich alle Bundesbürger auf, Vermißte und Kriegsgefangene auf einer standardisierten Registrierkarte zu melden. Die traurige Bilanz: Trotz eindrucksvoller Sucherfolge - seit 1945 konnten die Suchstellen in 8,8 Millionen Fällen helfen - fehlt fünf Jahre nach Kriegsende von 2,5 Millionen Menschen noch immer jede Spur.

"Gesucht werden Eltern oder Angehörige für Karl Kendritsch oder Kendrich, angenommenes Geburtsdatum 11. Juni 1939. Karl Kendritsch befand sich als Kind mit seiner Mutter, einem älteren Bruder und einer jüngeren Schwester mit dem Planwagen auf der Flucht. Wegen einer Beinverletzung mußte er vermutlich im Sommer oder Herbst 1944 in das Krankenhaus in Oppeln/Oberschlesien eingeliefert werden. Dort besuchte ihn die Mutter noch ein- bis zweimal. Nachdem Karl mit den anderen Patienten und dem Personal des Krankenhauses Oppeln evakuiert worden ist, hat er nie wieder etwas von seinen Angehörigen gehört."

So lautet eine der letzten Suchmeldungen, die der Norddeutsche Rundfunk noch 1997 ausstrahlte. Die jahrzehntelange Arbeit der Suchdienste erstreckt sich über die ganze Palette der Kriegs- und Nachkriegsschicksale: Kriegsgefangene, Flüchtlinge, Vertriebene, Kinder, Soldaten und Zivilisten, Internierte der sowjetischen, polnischen und jugoslawischen Konzentrationslager, Verschollene auf dem Gebiet der DDR, Deportierte, die aus den deutschen Ostgebieten und den ost- und südosteuropäischen Siedlungsgebieten in Stalins Gulag verschleppt worden waren - die Karteien des Suchdienstes wurden zur gigantischen Registratur der Schicksale von Millionen, die der Mahlstrom des Krieges erfaßt hatte.

Die Abschlußberichte stellten quasi-amtliche Dokumente dar

Mit immer moderneren und ausgefeilteren Methoden bemühten sich die Suchdienste, das millionenfach potenzierte Leid zu bewältigen. Aus den eingehenden Registrierkarten wurden Vermißtenlisten erstellt, die in 38 Bänden auf 3.841 Seiten gedruckt wurden. Eine Million ehemaliger Soldaten wurden mit Hilfe dieser Listen zwischen 1951 und 1958 befragt; etwa 100.000 Schicksale konnten die Mitarbeiter des Suchdienstes auf diesem Wege klären. Zu wenig. Aus den gesammelten Erfahrungen reifte das größte Projekt des Suchdienstes überhaupt: Nach Adenauers Rückkehr aus Moskau bewilligte der Bundestag einen zweistelligen Millionenbetrag für die Erfassung der Gesuchten in Bildlisten. Im Dezember 1957 ging das Mammutwerk in Druck: 200 Bildbände mit Personalangaben zu 1,4 Millionen Kriegsverschollenen und 900.000 Fotos, die das Gedächtnis der Befragten unterstützen sollten. 118.400 Bände wurden gedruckt und allen DRK-Kreisverbänden zur Verfügung gestellt. Man wartete aber nicht nur, bis die Heimkehrer zur Identifizierung ihrer Kameraden in die Suchdienst-Büros kamen; Busse fuhren über Land, um weitere Veteranen zu befragen. Der Aufwand lohnte sich: Bis 1965 hatten die Suchdienstler 2,6 Millionen ehemalige Wehrmachtsoldaten befragt und 300.000 Aussagen gesammelt, berichtet der ehemalige Geographiedozent an der Technischen Universität und langjähriger Leiter beim Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes, Klaus Mittermaier, in seinem aktuellen Buch "Vermißt wird... Die Arbeit des deutschen Suchdienstes" (Christoph Links Verlag, Berlin 2002, 189 Seiten, 16,90 Euro).

Besonderes Kopfzerbrechen bereiteten Hunderttausende von Kindern, die in den Kriegs- und Nachkriegswirren verschollen waren oder ihre Eltern verloren hatten. Allein 33.000 Findelkinder mußten identifiziert werden. Schon 1946 startete deshalb die "Aktion Pinguin": Fotos von elternlosen Kindern und Familienbilder verlorener Sprößlinge wurden mit allen relevanten Angaben auf großflächige Suchplakate gedruckt, die in Behörden, Heimen und öffentlichen Orten ausgehängt wurden. Die letzten derartigen Plakate wurden 1982 gedruckt. Zu diesem Zeitpunkt waren nur 400 der 33.000 Findelkinder noch immer nicht identifiziert. Auch der Rundfunk wurde genutzt: Seit Dezember 1945 verlasen mehrere Sender täglich zu bestimmter Stunde Listen mit Suchmeldungen. Als letzter Sender stellte der Norddeutsche Rundfunk erst Ende 1997 diesen zuletzt vierzehntägigen Dienst ein.

Bis heute suchen dagegen sogenannte "Wolfskinder", die in Ostpreußen ihre Eltern auf der Flucht verloren und bei russischen oder litauischen Familien aufgenommen wurden, über das Rote Kreuz ihre Eltern; und besonders seit dem Ende der Sowjetunion bearbeiten die Suchdienste immer wieder Anfragen von Russen oder Ukrainern, die ihre Väter suchen - deutsche Soldaten, die im Krieg ein Verhältnis mit russischen oder ukrainischen Frauen eingegangen waren.

Trotz der fortdauernden Suchaktivitäten glaubte Mitte der sechziger Jahre kaum jemand in Westdeutschland, daß man die Schicksale der immer noch Verschollenen je würde aufklären können. Die Suchdienste begannen, den Angehörigen Abschlußberichte zuzustellen. Die Gutachten sollten als quasi amtliche Dokumente den Angehörigen ermöglichen, Renten- und Versorgungsfragen, Erbangelegenheiten, Todeserklärungen und andere dringende Angelegenheiten zu lösen. Trotz der oft unzulänglichen Quellengrundlage waren die Auskünfte erstaunlich präzise: Nur 800 der 1,2 Millionen bis 1991 erstellten Gutachten erwiesen sich im nachhinein als falsch.

Nach Wiedergründung des Deutschen Roten Kreuzes in der jungen Bundesrepublik bemühten sich die Suchdienste früh, Kontakte zu korrespondierenden Organisationen in Osteuropa aufzunehmen. Schon in den fünfziger Jahren konnte Kontakt mit dem Roten Kreuz in Polen und der Sowjetunion aufgenommen werden. Zwischen 1957 und 1991 beantwortete das Sowjetische Rote Kreuz 450.000 Suchanfragen. Wenig kooperativ zeigte sich bislang Polen bei der Aufklärung der Schicksale von 70.000 Kriegsgefangenen und etwa 100.000 Zivilinternierten, von denen schätzungsweise wenigstens ein Fünftel in den nach dem Krieg eingerichteten Konzentrationslagern ums Leben kam. Auch Tschechien und die Slowakei haben erst in den letzten Jahren zur Aufklärung ungelöster Kriegsschicksale beigetragen.

Der Regimewechsel in der Sowjetunion brachte dagegen neuen Schwung in die Arbeit des Suchdienstes. Seit Mai 1991 öffneten sich zahlreiche russische Archive den deutschen Experten. Zahlreiche Schicksale konnten mit den neugewonnenen Daten geklärt werden. Vom russischen Geheimdienst FSB erhielt das Deutsche Rote Kreuz bis Ende 2001 140.000 Namen und Karteikarten; 66 der 89 Regionalarchive des Innenministeriums hatten im selben Zeitraum 65.000 Namen von verurteilten und in Lagern verstorbenen Deutschen zur Verfügung gestellt. Ergiebig zeigt sich auch das Militärarchiv; die Tagesmeldungen der NKWD-Begleitregimenter mit Berichten über erschossene beziehungsweise wiederaufgegriffene Gefangene werden derzeit mit großem Aufwand ausgewertet. Kasachstan, das zur Sowjetzeit mehrere große Lagerkomplexe beherbergte, stellte dem Roten Kreuz ebenfalls wertvolle Unterlagen zur Verfügung. Ein gemeinsames Forschungsprojekt deutscher und kasachischer Wissenschaftler bearbeitet zur Zeit die kompletten Lagerakten von Karaganda.

Erst nach dem Ende der DDR konnten mit Hilfe russischer Stellen zahlreiche Schicksale der in den Lagern des Geheimdienstes NKWD auf dem Boden der sowjetischen Besatzungszone Umgekommenen aufgeklärt werden. 1990 teilte der sowjetische Innenminister dem Suchdienst mit, daß zwischen 1945 und 1950 122.000 deutsche Zivilpersonen in diesen Lagern interniert wurden; 43.000 seien ums Leben gekommen, 45.000 entlassen worden, 14.200 nach Auflösung der Lager an die DDR übergeben und die übrigen in die Sowjetunion verbracht worden. Seit Mitte der fünfziger Jahre hatte der Suchdienst Informationen von in den Westen geflüchteten Augenzeugen gesammelt; seit 1992 bot der Zugang zu den NKWD-Akten verläßliche Aufschlüsse.

Im Gegenzug bemühte sich auch die deutsche Seite um Aufklärung von Schicksalen verschollener Sowjetbürger. Bereits in den achtziger Jahren übermittelten der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge und die Deutsche Dienststelle Berlin (die ehemalige Wehrmachtauskunftsstelle) 360.000 Namen von in Deutschland bestatteten Sowjetbürgern an das Rote Kreuz in Kiew und Moskau.

Noch heute sind 1,4 Millionen Deutsche verschollen

Der Aufgabenbereich des Suchdienstes ist in den Jahrzehnten seines Bestehens ständig ausgeweitet worden. Von den vietnamesischen "Boat people" der Siebziger bis zu den Bosnien-Flüchtlingen der Neunziger und den Kosovo- und Afghanistan-Flüchtlingen unserer Tage wird der Suchdienst im Zeitalter globaler Migrationsströme zunehmend von Angehörigen Vermißter und Verschollener aus aller Welt in Anspruch genommen, um in Deutschland vermutete Verwandte zu finden. Seit Mitte der sechziger Jahre gehört auch die Nachforschung in Katastrophenfällen zu den Aufgaben des Suchdienstes München als Nationaler Auskunftsstelle. Ob Erdbebenkatastrophe in der Türkei oder Anschlag auf das World Trade Center in New York - auch in solchen Fällen klingeln beim Münchner Suchdienst die Telefone.

Trotz dieser neuen Herausforderungen wird die Leistung des Suchdienstes in der historischen Erinnerung auch in Zukunft vor allem mit der Überwindung der Schmerzen des Krieges verbunden sein. Nicht nur, weil über ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende noch immer 1,4 Millionen Deutsche als verschollen gelten - die meisten in Osteuropa. Die vom Suchdienst geleistete Arbeit stellt ein unübersehbares Mahnmal des millionenfachen Leidens dar. Das Archiv des Suchdienstes ist ein historisches Zeugnis, das jedem Versuch entgegensteht, die Schicksale deutscher Opfer zu tabuisieren und unter den Teppich der Geschichte zu kehren.


 
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