© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/02 15. November 2002

 
"Gemünzte Freiheit"
China: Die Kommunistische Partei öffnet sich für private Unternehmer / Macht der Kader bleibt erhalten
Kai-Alexander Schlevogt

Alle fünf Jahre trifft sich im Herbst Chinas kommunistische Aristokratie - über 2.100 Delegierte aus dem ganzen Land. Der Parteitag besetzt hierarchische Gremien mit Führern, die ein Fünftel der Weltbevölkerung leiten, und stellt die Weichen für die Zukunft des größten und ältesten Reiches der Erde. Die wichtigen Entscheidungen des 16. Parteitages der 81jährigen kommunistischen Partei Chinas, der mit 66 Millionen Mitgliedern größten KP der Welt, wurden wie üblich bereits auf dem jährlichen Sommertreffen der obersten Führer in Beidahe getroffen.

Der gigantische Parteitag ermöglicht eine Bestandsaufnahme und einen Ausblick in die Zukunft. Trotz westlicher Unkenrufe und "Bedenken" verspricht eine beruhigende Kontinuität wichtiger politischer Strukturen und Prozesse verbunden mit gezielten, punktuellen Veränderungen zumindest in naher Zukunft weiteren Erfolg.

Berichte über die Lage zum Zeitpunkt des Parteitages lassen sich in zwei Lager einteilen. Die chinesische Presse und Freunde Chinas verweisen auf die Wachstumszahlen, die alle zehn Jahre das Bruttosozialprodukt verdoppeln. Außerdem zeigen die ausländischen Direktinvestitionen, daß Investoren Chinas System schätzen.

Dagegen suchen westliche Berichterstatter nach Mankos. Denn nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten, oder, gemessen am Versagen der westlichen Systeme, scheint alles zu schön, um wahr zu sein! Sie beklagen wachsende Arbeitslosigkeit und Armut, Korruption, organisiertes Verbrechen, Umweltverschmutzung und Menschenrechtsverletzungen. Diese Maßstäbe werden binär verstanden: Entweder gibt es einen Rechtsstaat oder nicht. Selbst das Bestreben der Führung, soziale Unruhen zu vermeiden (die in China auf einen Schlag Millionen Menschenleben kosten können), wird nicht gebilligt.

Für beide Betrachtungsweisen gilt, daß man bei einem Land von der Größe und Vielfalt Chinas nicht zu westlichen abstrakten Klischees und Schablonen greifen darf, obwohl man für sie trotz ihrer Realitätsferne aufgrund der Ausmaße des Landes problemlos zumindest einen "Beweis" finden kann. Statt dessen sollte man strukturelle Entwicklungslinien unabhängig vom Personalkarussell erkennen und das System an seinen Ergebnissen messen, die richtig erklärt und aus chinesischer Sicht bewertet werden müssen. Der Parteitag führt die folgenden Leitmotive fort:

Das Chaos und die Zerstörung, welche die "Große Proletarische Kulturrevolution" in den sechziger Jahren anrichtete, war paradoxerweise hilfreich. Denn sie überzeugten eine ganze Klasse von Funktionären, daß man Politik nicht nach spaltenden Theorien und lähmenden Dogmen ausrichten sollte.

Statt dessen zählt der wachsende Wohlstand einer am gleichen Ziel arbeitenden chinesischen Volksgemeinschaft. Verbale und konzeptionelle Flexibilität und Virtuosität zeichneten Staatsführer Deng Xiaoping aus, der - nach dem Tod Mao Tse-tungs - ab 1978 eine Reform- und Öffnungspolitik begann. Sozialismus, so erklärte Deng, sei all das, was die Produktivkräfte der Gesellschaft fördert. Dabei komme es nicht darauf an, ob eine Katze schwarz oder weiß ist, solange sie Mäuse fängt. So wurde "Sozialismus" in China wie "Demokratie" im Westen zum systemtragenden und machterhaltenden Konstrukt. Durch die mit der Unbestimmtheit verbundene Dehnbarkeit eliminierte der Begriff Reibungspotentiale, behielt aber vereinigende Stoßkraft. Politik wurde entmachtet und stärkte so die Mächtigen, deren Worte nach dem chinesischen Philosophen Laotse durch Nichtwirken wirken und Ordnung erzeugen.

Der vergangenen Freitag eröffnete 16. Parteitag setzt die pragmatische Tradition mittels einer Änderung des Parteistatuts fort: Neuerdings sollen auch einstmals als "kapitalistische Ausbeuter" bekämpfte private Unternehmer (sowie andere "fortschrittliche Kräfte") Parteimitglieder werden können. Sie sind die treibende Kraft des chinesischen Wirtschaftswunders, denn sie produzieren über 50 Prozent des Bruttosozialproduktes und schaffen die meisten Arbeitsplätze. Die erweiterte Repräsentation dient als zusätzliche Legitimation der Partei (neben dem wirtschaftlichen Erfolg) und vergrößert so ihre Überlebenschancen. Wozu, wird westlichen Beobachtern entgegengehalten, braucht man ein parlamentarisches Mehrparteiensystem, wenn man Pluralismus und Demokratie innerhalb einer Einheitspartei fördert, die zusätzlich noch die Vorteile einer zentralen strategischen Führung bietet?

Mao Tse-tung, der Gründer der Volksrepublik, war ein cleverer politischer und militärischer Stratege, aber er verstand als Bauer nichts von Wirtschaft. Seit 1978 herrscht eine kollektive Führung, die durch intelligente Stäbe unterstützt wird. Die Nachfolge vollzieht sich seitdem weitgehend ordentlich. Selbst ein Präsident, der wie Jiang Zemin zum Personenkult neigt, beugt sich den in der Verfassung verankerten Altersgrenzen. Der Übergang wird dadurch abgefedert, daß der Vorgänger vorübergehend einige Ämter behält (wie etwa Oberbefehlshaber).

Der Abschluß einer Reform läutet häufig weitere Änderungen ein, was ein sich erneuerndes System inhärent instabil macht. Es könnte mittelfristig (nach etwa zehn Jahren) zu Umwälzungen kommen, wenn die Einzelkinder an die Macht kommen, die mit der Welthandelsorganisation (WHO) vereinbarten protektionistischen Übergangsregelungen auslaufen und die Olympiade, welche die Nation im Bann hält, vorüber ist. Der Präsident wird dann nicht mehr von dem allseits akzeptierten Führer Deng auserkoren, was zu innerparteilichen Machtkämpfen führen kann.

Deng hat einen hohen gemeinsamen Nenner in Bezug auf Inhalte und Methoden gefunden, der zu für solch ein großes Land überraschender Einigkeit, Geschlossenheit, Handlungsfähigkeit und damit verbundenen gesellschaftlichen Hochleistungen führt. Als inhaltlichen Ziele wurden wirtschaftliche Reformen bei politischer Stabilität sowie "internationale Öffnung und Friedenspolitik" definiert. Als Methode verwendet man eine schrittweise Annäherung an einen gangbaren Weg durch Experimente in ausgewählten Bereichen, die Fakten schaffen. Eine Strategie wird zunächst versuchsweise umgesetzt und erst dann großflächig angewandt, wenn sie sich als erfolgreich bewiesen hat. Die Politik will vor allem Wohlstand erzeugen, also "gemünzte Freiheit", die den meisten Chinesen am schwersten wiegt.

 

Dr. Kai-Alexander Schlevogt, Gastprofessor des Henley Management College (Großbritannien), ist Autor von "The Art of Chinese Management" (Oxford University Press, 2002).


 
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