© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/02 15. November 2002

 
Soldatenbriefe als Nazitexte
Steffen Königer

Ein Eklat kündigt sich für die am Sonntag geplante Gedenkveranstaltung imPlenarsaal des Bundestags an. Der Volksbund deutsche Kriegsgräberfürsorge hat an diesem Tag eine Veranstaltung mit dem Thema "Stalingrad" geplant. Das Musikkorps der Bundeswehr sollte nach einer Gedenkrede von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) die Symphonie "Letzte Briefe aus Stalingrad" des französischen Komponisten Aubert Lemeland uraufführen. Der Ansprache Thierses, so die Planung, folgt eine von der Schauspielerin Senta Berger vorgetragene Lesung aus zehn Landserbriefen.

Zumindest aus dem Auftritt Thierses scheint nichts zu werden. Laut Presseberichten will Thierse auf dieser Veranstaltung nur auftreten, "wenn keine Nazi-Texte verlesen werden." Schließlich habe die Propagandaabteilung der Wehrmacht "im Auftrag des Propagandaministeriums der Nazis" die Briefe für ein "Heldenbuch" zusammengestellt und manipuliert. Auf Anfrage der JUNGEN FREIHEIT bestätigte das Büro des Bundestagspräsidenten, daß man nicht von dieser Position abrücken werde.

Zum sechzigsten Mal jährt sich die Einkesselung der sechsten Armee, mit der Hitler "den Himmel erobern" wollte. Stalingrad gilt seitdem als Wendepunkt im Verlauf des Zweiten Weltkrieges. 250.000 deutsche Soldaten wurden in Stalingrad eingeschlossen, etwa 6.000 überlebten Kesselschlacht, Gefangenschaft und Zwangsarbeit.

Welchen Ursprungs sind jedoch diese Briefe, aus denen mehr Verzweiflung, denn Propaganda spricht: "Einst war ich gläubig und stark, jetzt bin ich klein und ungläubig ... mir kann man nicht einreden, daß die Kameraden mit 'Deutschland' oder 'Heil Hitler' auf den Lippen starben ... das letzte Wort gilt der Mutter oder dem Menschen, den man am liebsten hat, oder dem Ruf nach Hilfe." Briefe wie dieser stammen aus einem von sieben Postsäcken, die im Januar 1943 ausgeflogen wurden und eigentlich dazu bestimmt waren, in ein dokumentarisches Werk über die Schlacht an der Wolga einzufließen. Nachdem in der Heeresfeldpost-Prüfstelle die Anschriften und Absender entfernt worden waren, befand jedoch Josef Goebbels, sie seien "untragbar für das deutsche Volk". So verschwanden sie vor der Öffentlichkeit bis in die fünfziger Jahre. Lemeland arbeitete zehn Jahre an dem Stück. Er selbst meinte, es sei ein schwieriges Unterfangen, die letzten Augenblicke im Leben der Soldaten mit Musik auszudrücken. "Im Augenblick des Todes haben alle Soldaten der Welt nur Worte an ihre Mütter". Unbegreiflich, daß der Verbannung durch Goebbels nun die Verteufelung durch Thierse folgt.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen