© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/02 08. November 2002

 
Die ultimative Waffe
Christoph Reuter versucht, den Antrieb von Selbstmordattentätern zu ihrem Handeln zu ergründen
Holger von Dobeneck

Beinahe kein Tag vergeht, ohne daß es nicht Schreckensmeldungen aus vorwiegend islamischen Gegenden dieser Welt über Selbstmordattentate gibt. Der Islamexperte Christof Reuter widmet sich in seiner umfangreichen Studie der Untersuchung dieses Phänomens.

Selbstmordattentate entfalten im Bewußtsein der Menschen eine zerstörerische Wirkung, denn sie setzen alle Grundregeln der menschlichen Existenz außer Kraft. Selbstmord als Ideal und sentimentalische Imitation trat erstmals als sogenannter Werther-Effekt in unseren Kulturkreis, eine Folge der romantischen Goethe-Lektüre, doch dies ist nicht zu vergleichen mit der grauenhaften Wirkung, wenn Selbstmord als Kriegswaffe eingesetzt wird und ganze Gesellschaften in einen euphorischen Mordwahn versetzt werden. Einen Selbstmordattentäter kann keine Macht der Welt schrecken. Reuter weist nach, daß hierbei alle individualpsychologischen Überlegungen zu kurz greifen, zum Täter kann letztlich jeder werden, Männer, Frauen, selbst Kinder. Wissen und Bildung scheinen eine mögliche Täterschaft nicht verhindern zu können.

Der Ursprung dieses Wahns, sein Leben als ultimative Waffe für eine Sache einzusetzen, knüpft an historische und regionale Begebenheiten an, bevor er sich später wie ein Virus in großen Teilen der islamischen Welt ausbreitete. Urbild dieser Entwicklung waren die Assassinen des Mittelalters, von denen sich das französische Wort für Mörder (assassin) ableitet.1090 hauste auf der Burg Alamut im Elbursgebirge Nord-Irans ein mörderischer Greis namens Hassan i Sabbah, genannt der Alte vom Berge, der im Namen des Islam todesbereite Mordkommanndos beauftragte. Erst die Mongolen machten dem Spuk ein Ende.

Reuter zieht eine große Linie von diesem historischen Vorbild zu dem Märtyrerkult im schiitischen Iran, wo Todeskommandos iranische Kinder zu Tausenden als menschliche Minenräumer im Krieg gegen den Irak an die Front schickten. Ein Schlüssel aus Metall, der um ihren Hals gehängt wurde versprach den 15jährigen Todeskandidaten ewige Seligkeit und direkten Eingang ins Paradies mit der jenseitigen Erwartung von 72 Jungfrauen zur lüsternen Verfügung.

In der Folgezeit wurde der Märtyrerkult von der Hisbollah im Libanon und dann von der Hamas in Palästina imitiert. Hier erst startete die große gesellschaftliche Inszenierung der Märtyrer. Ihre Namen wurden in Zeitungen und Rundfunk rühmend genannt, ihre Bilder schmückten viele Plakate. Erst dieses Umfeld ermöglichte es, sogar die Macht Gottes in Frage zu stellen, der auch für gläubige Muslime den eigentlichen Herrn über Leben und Tod darstellt.

Reuter schließt seine Analyse jedoch optimistisch. Demnach kann das schreckliche Phänomen erst verschwinden, wenn sich das historische und soziale Umfeld grundlegend gewandelt hat. Dazu gehört es auch, daß sich die desolate und deprimierende Lage der Palästinenser grundlegend ändern muß. Diese werden unter dem israelischen Besatzungsregime ständig gedemütigt. Da zudem auch die unter der Verantwortung Scharons stattgefundenen Massaker in den Flüchtlingslagern des Libanon und vergleichbare Vorgänge während des Sechstagekrieges unvergessen bleiben, schafft jeder Vorfall wie zum Beispiel die Schießerei des israelischen Arztes Baruch Goldstein auf betende Muslime in einer Moschee die Lunte für neue Racheaktionen - ein kausaler Nexus für spätere Selbstmordaktionen.

Christoph Reuter: Mein Leben ist eine Waffe. Selbstmordattentäter - Psychogramm eines Phänomens. Bertelsmann Verlag, München 2002, gebunden, 448 Seiten, 23,90 Euro


 
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