© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/02 08. November 2002

 
Ein Machtblock wird zum Büttel
Nato-Gipfel in Prag: Eine Steigerung der Effizienz des Bündnisses rückt durch neue Mitglieder in immer weitere Ferne - zugunsten des Gewichtes der USA
Michael Waldherr

Die Nato entscheidet auf ihrem Gipfeltreffen am 22. und 23. November in Prag nicht nur über die zweite Erweiterungsrunde, sondern auch über ein Konzept gegen die terroristische Bedrohung. Letztlich geht es um die Frage, ob die Nordatlantische Allianz vom Militärbündnis zum politischen Club mutiert.

Ein Jahr nach den Terroranschlägen des 11. September in den USA steht die Nato an einem Scheideweg. Die Entscheidung der USA, militärische Antworten fast ohne die Allianz zu planen, haben das Bündnis in eine Sinnkrise gestürzt. Signifikante Defizite bei den militärischen Fähigkeiten der Europäer haben dazu beigetragen, daß die Nato trotz Ausrufung der Beistandspflicht nach Artikel 5 des Nordatlantischen Bündnisvertrages nur eine verschwindend kleine militärische Nebenrolle spielte. US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld prägte die Formel: "Die Mission bestimmt die Koalition, nicht die Koalition die Mission!" Konsequent gingen die USA mit ihren Bündnispartnern lediglich bilaterale Abmachungen im Kampf gegen den Terrorismus ein. Damit macht Washington deutlich: Falls die Europäer weiter in ihren militärischen Fähigkeiten hinter Amerika zurückfallen, könnte sich die USA militärisch von der Nato abkoppeln. Das Bündnis wäre dann bloß noch zu militärischen Hilfsdiensten fähig, die Amerika für seine Operationen von Fall zu Fall von den einzelnen Mitgliedern abfordern würde. Nato-Generalsekretär Lord Robertson warnt deshalb: "Die Nato hat angesichts ihrer Fähigkeiten die Wahl zwischen Modernisierung und Marginalisierung."

Die heutige Nato ist vom reinen Verteidigungsbündnis zum expandierenden Instrument internationaler Krisenbewältigung geworden. Dabei ist noch immer nicht ganz klar, was die "neue Nato" eigentlich ausmacht. Pessimistische Stimmen unken, daß die Handlungsfähigkeit der Nato durch die Erweiterungsprozesse gefährdet sei. Ihre These lautet: "Wo jeder mit jedem verbündet ist, ist keiner mit keinem verbündet!" Bei weitem nicht jeder Sicherheitsexperte glaubt an ein globales Friedensszenario - und daher auch nicht an die neue Nato. Diese ist inzwischen so weit verzweigt, daß selbst Experten nicht mehr genau wissen, was in den inneren Gefügen passiert.

Unter Nato-Offizieren ist es ein offenes Geheimnis, daß das Nordatlantische Bündnis die erste Erweiterungsrunde aus dem Jahre 1999 mit Polen, Ungarn und der Tschechischen Republik noch immer nicht verkraftet hat. Während die Amerikaner unter dem Primat der Terrorismusbekämpfung die Nato am liebsten bis nach Zentralasien ausdehnen und sogar ehemalige Sowjetrepubliken wie Usbekistan und Tadschikistan aufnehmen wollen, geht unter europäischen Nato-Partnern die Angst um, eine entgrenzte Allianz könne sich überdehnen und am Ende handlungsunfähig werden. Die Europäer wollen die operative Verteidigungsstruktur der Nato erhalten. Nichts fürchten sie mehr, als daß die Nato zu einem "überwölbenden Diskussionsforum wie die OSZE" verkommt. Hier zeichnet sich ein deutlicher Gegensatz zu den USA ab: Washington favorisiert eine stärkere Politisierung der Allianz zur Absicherung ihrer geostrategischen Interessen.

Die Nato von heute definiert ihre Daseinsberechtigung vor allem über die Friedenssicherung. Sie übernimmt mehr und mehr die Stellung, die sonst den USA bestimmt war, sie sieht sich als Weltpolizei. Ob sie diesem Ausdruck gerecht wird, darf getrost bezweifelt werden, aber sie arbeitet schon lange nicht mehr nur nach den Prinzipien, die bei der Aushandlung des Nato-Vertrages galten. Damals galt es, daß sich die Bündnispartner gegenseitig bei der Verteidigung zu Hilfe kommen. Allerdings ist den wenigsten bewußt, daß es - auf Druck der US-Amerikaner - eine automatische militärische Beistandspflicht niemals gegeben hat. Der Beistand kann auch in einer diplomatischen Protestnote bestehen. Die Amerikaner wollten zur Zeit des Kalten Krieges verhindern, daß sie etwa bei einem Angriff auf Deutschland zwangsläufig zur Schlacht gezwungen werden.

Die Ost-Erweiterung der Nato ist kaum umstritten

Doch spätestens seit den Balkan-Konflikten ist klar geworden, daß die Nato kein reines Verteidigungsbündnis ist. Rhetorisch begabte Transatlantiker kontern, man müsse den Begriff "Verteidigungsbündnis" einfach weiter fassen. In Bosnien und im Kosovo sei es zwar nicht um die Verteidigung von Nato-Mitgliedern gegangen, wohl aber um die Verteidigung der Menschenrechte.

Die Nato-Osterweiterung beseitigt keineswegs das Problem, daß der Kreis der europäischen Nato-Länder weder deckungsgleich ist mit den gegenwärtigen, noch mit den zukünftigen EU-Staaten. Hieraus resultiert die Frage, ob es EU-Länder mit unterschiedlichem Niveau von Sicherheit geben kann: Solche, die gleichzeitig der Nato angehören, und solche, die nicht in eine gemeinsame Verteidigung integriert sind. Die Europäische Union versucht das Problem mit einer gemeinsamen "Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik" (ESVP) zu entschärfen - und scheitert doch immer wieder kläglich. Die geplante EU-Eingreiftruppe ist ein zahnloser Papiertiger - allen Absichtserklärungen zum Trotz. Überdies bliebe diese schon aus Kostengründen organisatorisch mit der Nato verzahnt.

Weil die Europäer einfach nicht zu Potte kommen, die Amerikaner aber Großes vorhaben, schlägt US-Verteidigungsminister Rumsfeld die Schaffung einer "Schnellen Eingreiftruppe der Nato" vor. Der 21.000 Mann starke Verband soll vorwiegend aus militärischen Sondereinheiten bestehen und weltweit den Terrorismus bekämpfen. Nach den Plänen des Pentagons soll die Nato-Eingreiftruppe für friedenserzwingende Kampfeinsätze zuständig sein, während sich die EU-Truppe lediglich um humanitäre Aufgaben, Rettungseinsätze und Blauhelm-Missionen kümmern soll. US-Offiziere verdeutlichen europäischen Kameraden die zukünftige Aufgabenteilung mit den flapsigen Worten: "Wir hauen drauf - und ihr räumt auf!"

Die erneute Erweiterung der Nato ist trotz allem kaum umstritten. Wahrscheinlich kommen Estland, Lettland, Litauen, die Slowakei, Slowenien, Rumänien und Bulgarien hinzu. Vor allem die letzten beiden Staaten haben strategische Bedeutung für die Stabilisierung Südosteuropas. Zugleich verbessern sich Möglichkeiten, westliche Interessen im Schwarzmeerraum zu vertreten.

Das zu erwartende Votum für eine Erweiterung um die sieben Beitrittskandidaten hat Ursachen. Hier spiegelt sich die veränderte Haltung Washingtons zur Nato. Zum einen spielt die geographische Erweiterung der militärischen Beistandspflicht heute eine viel geringere Rolle als bei der ersten Erweiterung. Das Risiko eines klassischen Krieges in Europa ist weiter gesunken. Zum zweiten sehen die USA die Aufgabe der Nato in Europa zunehmend als Stabilisierungsfaktor, um die endgültige Integration Mittel- und Osteuropas in die westlichen Strukturen abzusichern. Die militärische Aufgabe in Europa besteht primär darin, ein Wiederaufflammen der Konflikte auf dem Balkan zu unterbinden. Überdies: Wenn die Aufnahme aller sieben Staaten auf einen Streich erfolgt, so stünde auf absehbare Zeit keine für das Verhältnis zu Rußland problematische Erweiterung des Bündnisses mehr an. Die Nato müßte nicht erneut über eine Vertiefung der Zu­sammenarbeit mit Ruß­­land als Gegenleistung nachdenken. Zwei Mal ging der Aufnahme neuer Staaten eine Initiative zur Vertrauensbildung gegenüber Ruland voraus. Beim nächsten Mal müßte Rußland nach der schon bestehenden "Partnership for Peace" und dem "Nato-Rußland-Rat" wohl oder übel die Nato-Vollmitgliedschaft offeriert werden.

Ein neues strategisches Konzept ist nicht geplant

Strittiger ist das zweite wichtige Gipfelthema: die künftigen Aufgaben. Die Nato befindet sich im Kampf ums politische Überleben. Obwohl sie nur einen Tag nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 den Bündnisfall ausrief, forderte Washington nur symbolische militärische Beiträge und vermied es, die Nato in die Entscheidung über militärische Reaktionen einzubeziehen. Die Nato und die Mitgliedstaaten, die Streitkräfte zur Unterstützung bereitstellen, werden bestenfalls informiert und gegebenenfalls konsultiert. Auf Mitwirkung an politisch-strategischen Entscheidungen haben sie keinen Anspruch. Die Mitsprache bleibt auf operative Entscheidungsbefugnisse wie über den Awacs-Einsatz in den USA beschränkt.

Mit aller Macht versucht Lord Robertson, diesem Relevanzverlust entgegenzusteuern. Die Nato, so sein Credo, müsse die Terrorismusbekämpfung mit ins Zentrum ihrer Aktivitäten holen. Auch der Bekämpfung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen komme wachsende Bedeutung zu. Etliches sei schon erreicht. So habe das Bündnis endlich die Debatte um Out-of-Area-Einsätze zu den Akten gelegt und sich dazu bekannt, Einsätze nach Erfordernis auch weltweit durchzuführen. "Die Nato kann jetzt eine führende Rolle bei der Bekämpfung des Terrorismus übernehmen und ihre militärischen Fähigkeiten anderen internationalen Organisationen und Koalitionen von Fall zu Fall zur Verfügung stellen", erklärt Robertson.

Der Prager Nato-Gipfel soll ein vom Militärausschuß erarbeitetes "Militärisches Konzept zur Verteidigung gegen den Terrorismus" verabschieden. Ein neues strategisches Konzept ist dagegen nicht geplant. Die USA hingegen haben erst im September ihre nationale Strategie deutlich verändert. Sie schließen es bei der Bekämpfung des Terrorismus und der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen nicht mehr aus, selbst anzugreifen, bevor sie angegriffen werden können. Dafür stehen die Begriffe "preemptive strikes" - Präventivschläge - und "defensive intervention" - als vorbeugende Selbstverteidigung. Selbst der Einsatz nuklearer Waffen wird bei solchen Militärschlägen, die sich gegen staatliche wie nichtstaatliche Akteure richten können, nicht ausgeschlossen.

Damit gerät die Nato in ein Dilemma. Würde sie ihre Strategie anpassen, so bekäme die "westliche Verteidigungsgemeinschaft" Probleme mit der völkerrechtlichen Legitimität ihrer Planungen, müßten diese je umgesetzt werden. Weder präventive Angriffe noch der in der nationalen Strategie der USA offen gehaltene Einsatz nuklearer Waffen in einem solchen Kontext wäre völkerrechtlich abgedeckt. Was tun, wenn die Amerikaner fordern, die europäischen Nato-Staaten sollten über die nukleare Teilhabe an solchen Einsätzen mitwirken? Die Nato liefe Gefahr, aktiv das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen zu schwächen und an der Deregulierung der internationalen Beziehungen mitzuwirken. Wie aber soll die Nato ihrem stärksten Mitglied klar machen, daß in der Allianz andere Regeln gelten? Eine kaum lösbare Lage, der die Allianz wahrscheinlich mit Formelkompromissen und selbstauferlegten Denkverboten zu entkommen sucht.

Anpassen will der Gipfel auch die Nato-Initiative zur Stärkung der militärischen Fähigkeiten (Defence Capability Initiative / DCI) vor allem der europäischen Bündnispartner. Diese Initiative soll nun neben Fähigkeiten für das Krisenmanagement auch solche fördern, die zur Bekämpfung des Terrorismus und der Massenvernichtungswaffen relevant sind. Zugleich soll das Vorhaben gestrafft, auf weniger, aber wichtige Felder beschränkt und im Hinblick auf die Mitglieder verpflichtender gemacht werden. Schon die neuen Streitkräfteziele im Juni wiesen in diese Richtung.

Angesichts der großen Steigerung bei den Militärausgaben Washingtons fürchtet der Rest der Nato zu Recht, mittelfristig seine technische Fähigkeit zum Zusammenwirken mit den US-Streitkräften einzubüßen und deshalb weiter an Bedeutung zu verlieren. Die europäischen Staaten sehen sich gedrängt, mehr Geld auszugeben, als es die Maastricht-Kriterien erlauben. Zugleich schlagen sie sich mit dem Vorwurf herum, ihr Geld nicht effizient einzusetzen. Schlanker, funktions- und handlungsfähiger soll die größere Nato werden. Der Gipfel soll Vorgaben für eine neue, effizientere Arbeitsstruktur des Bündnisses und für eine neue Kommandostruktur beschließen.

Vor allem Letzteres ist eine heikle Aufgabe. Geht es doch für jeden Nato-Staat um Einfluß, den Anteil an gut dotierten Posten und um die Hauptquartiere auf seinem Boden. Bis Sommer 2003 soll der Nato-Militärausschuß die Sisyphos-Aufgabe lösen und eine endgültige Entscheidungsgrundlage vorbereiten. Darum ist er kaum zu beneiden, denn Ungemach droht: Bei der Reform der Kommandostrukturen könnten die künftigen Nato-Mitglieder Anspruch auf Berücksichtigung erheben. Dies wirkt gegen das Ziel der Straffung. Zum anderen hat die Reform der nationalen Kommando-Struktur der USA in Brüssel deutliche Besorgnis ausgelöst. Die Nato soll demnach ihren wichtigsten Stab in den USA, Saclant, endgültig aufgeben. Saclant ist dem Nato-Oberbefehlshaber Saceur gleichgestellt, befehligt die Seestreitkräfte im Atlantik und im Krieg auch die assignierten strategischen Nuklear-U-Boote, den Kern der Nato-Nuklearabschreckung.

Die Nato ist zur Verteidigung der USA unnötig geworden

Hinzu kommt, daß Northcom, das neue US-Oberkommando für die Heimatverteidigung, auch die Zuständigkeit für eine 500-Meilen-Zone vor der US-Atlantik-Küste erhält. Manche Sicherheitspolitiker sehen darin ein Signal, daß die Nato zur Verteidigung der USA nicht mehr gebraucht wird. Diese Befürchtung kann auch durch Überlegungen, das Atlantikkommando der Nato in ein funktionales strategisches Oberkommando umzuwandeln, nicht ausgeräumt werden. Gipfeltreffen unterliegen eigenen Gesetzen. Das strittigste Thema Irak steht häufig gar nicht auf der Tagesordnung.

Egal, ob ein Eingreifen im Irak dem Ziel der Ausschaltung irakischer Massenvernichtungswaffen oder des Regimes von Saddam Hussein folgt - es gibt Fragen: Spielt die Allianz bei einer Intervention eine Rolle, und wenn ja, welche? Wird es ein Mandat der Vereinten Nationen geben? Wird die Intervention den Charakter eines präventiven Angriffs haben?

Für die Nato birgt das äußerst schwierige Probleme: Kann das, was 1949 als Verteidigungsbündnis freier Staaten wider einen expansiven Kommunismus gegründet wurde, als westliche Wertegemeinschaft noch glaubwürdig bleiben, wenn es sich selbst über gültiges Völkerrecht hinwegsetzt und einen Angriffskrieg führt? Noch schwieriger ist die Lage für Deutschland, einen der wenigen Staaten, deren Verfassung die Vorbereitung eines Angriffskrieges explizit verbietet. Die Deutschen sollten weniger von den "Lehren aus der Vergangenheit" reden, als sich vielmehr an ihr Grundgesetz halten. Den eigentlichen Zweck des Transatlantischen Bündnisses kennt jeder Nato-Offizier: "Keep the americans in, the russians out und the germans down!" Gründe genug für deutsche Zurückhaltung.


 
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