© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/02 08. November 2002

 
BLICK NACH OSTEN
Ohne Rücksicht auf Verluste
Carl Gustaf Ströhm

Als Josef Stalin im Kriegsjahr 1944 das kleine nordkaukasische Volk der Tschetschenen wegen angeblicher Kollaboration mit der deutschen Wehrmacht kollektiv aus seiner Heimat im nördlichen Kaukasus deportierte, war der Begriff der "ethnischen Säuberung" noch unbekannt. Dennoch handelte es sich genau darum - ausgeführt auf die brutalste Weise.

Die Tschetschenen, ein moslemisches Volk, hatten der russischen Eroberung des Kaukasus schon zu Zarenzeiten erbittert Widerstand geleistet, Leo Tolstoj schildert dies vor hundert Jahren in seiner Erzählung "Hadschi Murat". Die Eroberungsmethoden des russischen Zarenreiches waren aber relativ "milde" im Vergleich zu den Erfahrungen, welche das archaische und stolze kleine Volk unter der Sowjetmacht sammeln mußte. Als Stalin dessen massenhafte Deportation befahl, starben Zehntausende von Frauen und Kindern während des Transports ins sowjetische Zentralasien. Bei jenen Gebirgsdörfern, wo es schwierig war, die Bewohner über Felsen und Schluchten zum nächsten Bahnhof im Tal zu eskortieren, machten die NKWD-Spezialeinheiten kurzen Prozeß: Die Menschen wurden in ihre Häuser getrieben und ganze Dörfer angezündet. Tausende verbrannten - es gab keine Gnade.

In einem der Deportationstransporte wurde 1944 unter unvorstellbaren Bedingungen ein Knabe geboren, der es später zum General der sowjetischen Raketentruppen bringen sollte: Es war Dschochar Dudajew, der 1991 erster Präsident der neu proklamierten Republik Tschetschenien werden sollte. Als ranghöchster Kommandeur in Estland hatte Dudajew bereits zu Sowjetzeiten Kontakt zu estnischen Intellektuellen und Professoren der Dorpater Universität aufgenommen. Ihn interessierte, auf welche Weise die Esten nach 1918 ihre Unabhängigkeit erringen konnten.

Es gehört zu den Tragödien der postkommunistischen Ära, daß die Moskauer Führung den aufgeklärten Nationalisten Dudajew nicht akzeptierte, sondern ihn 1996 mittels einer gezielten Rakete ermorden ließ. Solange Dudajew Präsident war, gab es in Tschetschenien Nationalismus, aber keinen Fundamentalismus - der Islam stand noch nicht an erster Stelle. Die Tschetschenen wollten ihren unabhängigen Staat. Hätte man ihnen dazu verholfen - den Kaukasus-Völkern und den Russen wäre viel Unheil erspart geblieben.

Doch Moskau, noch unter Präsident Boris Jelzin, ließ 1994 die Panzer rollen -mit katastrophalem Ergebnis. Der inzwischen auf mysteriöse Weise umgekommene russische General Lebed brachte zeitweise einen Waffenstillstand zustande, doch mit der Wahl Wladimir Putins siegten erneut der großrussische Anspruch und die Geheimpolizei-Methoden. Mit einer an Sowjet-Zeiten erinnernden Brutalität gingen Militär und Sondereinheiten gegen die Tschetschenen vor. Bis heute gab es schätzungsweise 80.000 Tote. Die Hauptstadt Grosny sieht inzwischen aus wie Berlin im Jahre 1945.

Gewiß sind die Terroraktionen tschetschenischer Selbstmordkommandos, wie zuletzt in Moskau, zu verurteilen. Doch wie kommt es, daß aus einem kleinen Volk von etwa einer Million Seelen so viele junge Leute hervorgehen, die bereit sind, das eigene Leben zu opfern? Und warum greift das postkommunistische Rußland selber zu terroristischen Methoden (etwa dem plumpen Giftgaseinsatz unter Opferung zahlreicher Geiseln), statt nach der einzig möglichen politischen Lösung zu suchen? Ist unter solchen Umständen eine Partnerschaft zwischen Rußland und dem Westen überhaupt denkbar? Wo bleiben da die "westlichen Werte"?


 
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