© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/02 08. November 2002

 
Proletarischer Volkstribun
Brasilien: Mit großer Mehrheit wurde der Sozialist Inácio Lula zum neuen Präsidenten gewählt / Keine Mehrheit im Parlament
Carlos E. Izquierda

Viele Bürger Lateinamerikas reiben sich vor Staunen die Augen, denn die scheinbar uneinnehmbare bürgerliche Bastion Brasilien ist am 27. Oktober an eine Linksregierung gefallen. Der frühere Gewerkschaftsführer und sozialistische Präsidentschaftskandidat Luiz Inácio Lula da Silva hat die Stichwahl um das höchste Staatsamt in Brasilien gewonnen. In der Stichwahl kam der 57jährige Kandidat der Arbeiterpartei, der Partido dos Trabalhadores (PT), auf über 60 Prozent und lag damit weit vor dem Kandidaten der bisherigen bürgerlichen Regierung, José Serra.

Lula bezeichnete seinen Wahlsieg zu Recht als "Beginn einer neuen Ära", denn in Lateinamerikas größtem und mit bald 165 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichstem Land ist es seit über 40 Jahren noch keinem Sozialisten gelungen, das höchste Staatsamt zu erlangen. Lula selbst hat drei vergebliche Anläufe hinter sich.

Wahlentscheidend war letztlich die hohe Zahl der Arbeitslosen, die offiziell 7,6 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung beträgt und deren völlig unzureichende soziale Absicherung. Die große Armut - laut Lula müssen mehr als 100 Millionen Brasilianer mit umgerechnet weniger als zwei Euro pro Tag auskommen - dürfte ebenfalls ausschlaggebend gewesen sein. Der frühere Schlosser, der als Sohn einfacher Bauern geboren wurde, galt in dem Land der großen sozialen Gegensätze für viele als Hoffnungsträger. Zugute kam dem PT-Gründer auch, daß er in diesem Wahlkampf etwas ruhigere Töne angeschlagen hat und so wichtige Verbündete aus der politischen Mitte gewinnen konnte.

Trotz der großen Verelendung in Brasilien setzten sich seine militantesten Anhänger nicht aus Arbeitslosen oder aus Bewohnern der Favelas (Vorstadt-Slums), sondern - wie bei fast allen linken Parteien der Welt - größtenteils aus Intellektuellen, Künstlern und Staatsbediensteten zusammen. Bei den Wahlkampfkundgebungen machten viele dieser Anhänger keinen Hehl aus ihrer wahren Gesinnung und zeigten die rote Hammer-und-Sichel-Flagge.

Ob Lula die hohen Erwartungen der brasilianischen Unterschicht erfüllen kann, ist fraglich. Viele glauben, daß er unverändert von einem brasilianischen Tropensozialismus nach kubanischem Vorbild träumt, denn selbst in seinem penibel auf moderate Töne bedachten Wahlkampf hat Lula sich mit Kubas Diktator Fidel Castro ablichten lassen und offen gute Beziehungen zu Lateinamerikas wohl skurrilstem "national-sozialistischen" Wirrkopf, dem Präsidenten von Venezuela, Hugo Chávez, unterhalten (siehe JF 18/02).

Auch der Pakt Lulas mit der mächtigen Bewegung der Landlosen (MST), die einen "radikalen Bruch mit der bürgerlichen Vergangenheit" und Enteignungen von unzähligen Bauernhöfen verlangt, lassen die Angst vor einer südamerikanischen Variante des Mugabe-Regimes nicht unbegründet erscheinen.

Selbst wenn der Vergleich mit Afrika übertrieben erscheinen mag, ist ein Vergleich mit dem von Korruption und Mißwirtschaft zerfressenen Nachbarland Argentinien um so angebrachter. Nachdem der Wahlsieg des (vormals) radikalen Sozialisten immer absehbarer wurde, brach der Wert der brasilianischen Währung Real im Vergleich zum Dollar schlagartig ein. Internationale Investmenthäuser, wie Goldman Sachs und Moody raten unverblümt vor Investitionen ab.

Der Zinssatz der Zentralbank des Landes ist mit 21 Prozent einer der höchsten der Welt und eine öffentliche Verschuldung in Höhe von 201.041 Millionen Dollar, was 58 Prozent des Bruttoinlandproduktes ausmacht, ermöglicht kaum noch finanziellen Spielraum. Sollte es Lula nicht gelingen, die Wirtschaft wieder anzukurbeln und die Arbeitslosenzahlen erheblich zu reduzieren, drohen gewalttätige Ausschreitungen, wie man sie schon aus Buenos Aires kennt.

Ein Hoffnungsschimmer für die bürgerlichen Kräfte des Landes waren die am 6. Oktober gleichzeitig mit den Präsidentschaftswahlen ausgetragenen Parlaments- und Gouverneurswahlen. Hier konnte die Arbeiterpartei zwar um mehr als dreißig Prozent zulegen, verfügt aber in beiden Parlamentskammern gerade einmal über ein Drittel der Stimmen.

Für die Durchsetzung ihrer politischen Ziele ist sie deshalb auf Unterstützung aus dem bürgerlichen Lager angewiesen. Prononciert konservativen Kandidaten gelangen bei den Wahlen verschiedentlich Überraschungserfolge: Der frühere Präsident und Gründer der rechtskonservativen Partido de Reconstrução Nacional (PRN) Fernando Collor de Melo konnte im nördlichen Bundesstaat Alagoas die meisten Stimmen auf sich vereinen.

Auch Paulo Maluf, ein erzkonservativer Kazike aus São Paulo, der eng mit den beiden letzten Militärregierungen kollaborierte, konnte über vier Millionen Stimmen erringen und ist zukünftiger Gouverneur des wirtschaftsstärksten Bundesstaates Sao Paulo. Der Partido Progressista Brasileiro (PPB), der 1995 als Zusammenschluß verschiedener Rechtsparteien unter der Parteiführung von Espiridião Amin gegründet wurde, fiel hingegen nicht ins Gewicht.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen