© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/02 08. November 2002

 
Erdbeben am Bosporus
Türkei: Bei den Parlamentswahlen holten die Islamisten die absolute Mehrheit / Regierungsparteien abgestraft
Ivan Denes

Am Bosporus herrscht eine eigenartige Demokratie: die sich "gemäßigt" darstellende islamistische Partei "Gerechtigkeit und Entwicklung" (AKP) von Recep Tayyip Erdogan gewinnt mit 34,27 Prozent die Wahlen, erwirbt damit aber 363 Parlamentsmandate von insgesamt 550, und verfehlt so nur knapp die Zweidrittelmehrheit.

Die Verfassung wird also von Erdogan - der auf Grund einer früheren Verurteilung wegen Volksverhetzung nicht gewählt werden durfte und so nur hinter den Kulissen die Fäden ziehen kann - nicht geändert werden können. Verdorben haben ihm das Spiel neun unabhängige Kandidaten, die in verschiedenen Provinzen teilweise bis zu einem Viertel der Stimmen erreichen konnten. Einzige Oppositionspartei ist nun die prowestliche sozialliberale Republikanische Volkspartei (CHP) von Denis Baykal und Ex-Wirtschaftsminister Kemal Dervis, die 19,39 Prozent erhielt.

Die Zehn-Prozent-Hürde hat sich vergangenen Sonntag als zutiefst antidemokratisch erwiesen, denn der politische Wille fast der Hälfte der Wähler bleibt im Spiegelbild des Parlaments unberücksichtigt. Immerhin ein positives Ergebnis hat der türkische Urnengang erzielt: die gesamte türkische "Bakschisch-Elite" ist abgewählt worden: Die bürgerliche Partei des Rechten Weges (DYP) von Tansu Ciller, der ersten türkischen Ministerpräsidentin, scheiterte mit 9,55 Prozent. Ihr jüngst geäußerter Wunsch, Ministerpräsidentin zu sein, "wenn die USA den Irak angreifen", blieb unerfüllt.

Auch der türkische "Berlusconi", der schillernde Medienzar Cem Uzan mit seiner "Genc-Parti" ("Jugendpartei") kam trotz massivem Geldeinsatz und waghalsiger Wahlversprechen nur auf 7,24 Prozent. Noch ärger traf es die bürgerliche Mutterlandspartei (ANAP) von Ex-Premier Mesut Yilmaz, die nur noch 5,12 Prozent erreichte und die Partei des bisherigen schwerkranken Ministerpräsidenten Bülent Ecevit - seine linksnationale DSP wurde mit gerade mal 1,22 Prozent abgestraft!

Selbst die - bisher zusammen mit DSP und ANAP regierende - stramm rechtsnationale und kurdenfeindliche Nationalistische Aktionspartei (MHP) von Devlet Bahceli scheiterte mit 8,33 Prozent. Auch ihr "Widerpart", die prokurdische linke Demokratische Volkspartei (DEHAP) kam nur auf 6,21 Prozent. Den Erdrutsch löste zweifelsohne die wirtschaftliche und finanzpolitische Katastrophe aus, die das Land vor zwei Jahren heimgesucht hat und deren Folgen bis zum heutigen Tag, trotz massiver Hilfe des Internationalen Währungsfonds (IWF), der USA und der EU, nicht überwunden werden konnten.

Erdogan, ein Jünger des ehemaligen fundamentalistischen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan (der in Aachen einst Ingenieurwissenschaft studiert hatte) und selbst ein erfolgreicher früherer Bürgermeister von Istanbul, ist, anders als herkömmliche türkische Politiker, kein käuflicher Mann (siehe auch Porträt Seite 3). Daher unterstützen ihn sowohl Unternehmer und Intellektuelle im entwickelten Westen des Landes als auch tiefreligiöse Bauern im verarmten Anatolien. Erdogan versprach viel: mehr Rechte für die etwa 15 Millionen Kurden, Kampf gegen die Korruption, neue Autobahnen und Arbeitsplätze für zwei Millionen Menschen. Wie die meisten fundamentalistischen Politiker, quer durch die islamische Welt, hat Erdogan eine "soziale Ader". Gleichzeitig will er die Sanierung der türkischen Wirtschaft rigoros nach den Vorgaben des IWF weiter voranbetreiben - was allerdings angesichts gewisser Erfahrungen etwa in Argentinien oder in Rußland erneut in einer ökonomischen und sozialen Katastrophe enden kann.

Der 48jährige will den Beitritt der Türkei zur EU beschleunigen, die Teilnahme der Türkei an dem bevorstehenden Krieg gegen den Irak nicht verhindern. Kurzum: er gibt sich überaus prowestlich, zumal vor einem türkischen Gericht ein nicht ausgesetztes, sondern lediglich suspendiertes Verbotsverfahren gegen seine AKP-Partei lauert. Erdogan weiß, daß er momentan zu Konzessionen in Richtung des ideologischen Erbes Kemal Atatürks, des weltlichen Staates, der säkularen politischen Kräfte, aber in erster Linie der allmächtigen Streitkräfte gezwungen ist, wenn das neue Parlament nicht kurzfristig aufgelöst werden soll. Doch glaubwürdig ist das prowestliche Bekenntnis der AKP und Erdogans keineswegs. Ein flammender Fundamentalist, der noch vor vier Jahren bereit war, für seinen Glauben in den Kerker zu gehen, wird wohl kaum abtrünnig. Eher drängt sich die Erinnerung an gewisse Koran-Suren auf, die die Irreführung und das Belügen der Ungläubigen, der Giauren, erlauben, um das hehre Ziel des Rechtgläubigen zu erreichen.

Das ignoriert natürlich die Vorsitzende der deutschen Grünen, Claudia Roth, vollständig, wenn sie einen Tag nach der Wahl proklamiert: "In das Wahlergebnis nun eine Islamisierung hereinzuinterpretieren, greift zu kurz. Die AKP hat ein klares Bekenntnis zu einem proeuropäischen Kurs abgelegt."

Die AKP hat sogar mehr gemacht: Erdogan nahm eine Einladung des sozialistischen griechischen Ministerpräsidenten Kostas Simitis an - seine erste Auslandsreise soll nach Athen führen. Sein ideologischer Ziehvater Erbakan reiste nach seinem Amtsantritt als Premier gleich zu den Mullahs nach Teheran. Es ist sogar nicht auszuschließen, daß ein AKP-Premier (dessen Name bislang noch nicht feststeht) auf einen Kompromiß in der Zypern-Frage eingehet, zumal der Führer der Zyperntürken, Rauf Denktas, lebensgefährlich erkrankt zu sein scheint und kaum noch in der Lage sein wird, Widerstand zu leisten.

Aber einem "geläuterten" Fundamentalisten Glauben zu schenken und all das, was er zur Konsolidierung der errungenen Macht aus taktischen Erwägungen sagt und unternimmt, als bare Münze zu nehmen, ist - vorsichtig formuliert - äußerst gewagt. Das gilt allerdings nicht nur für Claudia Roth, sondern auch für Außenminister Joseph Fischer und für Gerhard Schröder, die sich unter dem Zeichen einer Neuauflage einer Sühnezeichenaktion gegenüber den USA für den Beitritt der Türkei zur EU stark machen.

Entscheiden werden allerdings weder die Grünen noch der Bundeskanzler. Denn am Montag traf auf Einladung des Vorsitzenden des Vereinten US-Generalsstabs, General Richard Myers, der Chef des türkischen Generalstabes, General Hilmi Ozkok, in Washington ein. Bei den Gesprächen wird wohl eine Vorentscheidung darüber fallen, ob man das Risiko eingeht, im Vorfeld des Irak-Feldzuges im Rücken einer der wichtigsten Frontlinien eine wie auch immer getarnte fundamentalistische Regierung zu dulden.

In der neuzeitlichen Geschichte der Türkei haben das letzte Wort immer die - laizistischen - Generäle gehabt. Greifen sie jedoch auch diesmal ein, würde ein EU-Beitritt endgültig aussichtslos. Denn "demokratisch" haben die Islamisten in der Türkei ohne Zweifel gewonnen. Das gelang 1999 auch der Front Islamique du Salud (FIS) in Algerien - doch Polizei und Militär verhinderten mit Gewalt eine Machtübernahme.


 
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