© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/02 08. November 2002

 
Wege nach Königsberg
Die EU und Rußland müssen eine partnerschaftliche Lösung finden
Wolfgang Seiffert

Nächste Woche soll der EU-Gipfel mit Rußland stattfinden. Eines seiner Hauptthemen soll eine Re-gelung des Transitverkehrs zwischen Rußland und seiner bald völlig von EU-Staaten eingeschlossenen Exklave Kaliningrad - dem nördlichen Ostpreußen - sein.

Doch schon der Ort des Treffens ist umstritten. Geplant war Kopenhagen, doch dann protestierte Präsident Wladimir Putin gegen den "Weltkongreß der Tschetschenen" in Kopenhagen und drohte, wenn man diese von Terroristen organisierten Veranstaltung nicht absage, werde er nicht nach Dänemark kommen, das derzeit die EU-Präsidentschaft innehat.

Der inzwischen von der dänischen Polizei verhaftete Tschetschenen-Sprecher Achmed Sakajew drohte kürzlich im deutschen Fernsehen, nach dem gescheiterten Terrorakt in Moskau könnte man sich das nächste Mal einem russischen Atomkraftwerk zuwenden. Zwar hat Premier Anders Fogh Rasmussen das Gipfeltreffen inzwischen nach Brüssel verlegt, und Putin seine Teilnahme zugesagt. Doch Rußland verlangt weiterhin die Auslieferung Sakajews - aber der begehrt Asyl.

Wie dem auch sei: Zwar haben die 15 EU-Außenminister bei ihrem Treffen am 22. Oktober beschlossen, für den russischen Transitverkehr ins frühere Königsberg auf eine Visapflicht zu verzichten, doch die Probleme liegen im Detail. Zum einen sollen dennoch besondere Dokumente ausgestellt werden. Zum anderen erläßt das künftige EU-Mitglied Litauen "nationale Vorschriften". Die Modernisierung einer Eisenbahntransitstrecke wird geprüft. Vergegenwärtigt man sich die bisherigen Gespräche, so glichen diese eher einem Disput zwischen Taubstummen denn ernsthaften Verhandlungen zwischen Mitgliedern eines Partnerschaftsvertrages, der zwischen der EU und Rußland besteht.

Die EU besteht darauf, "daß das Prinzip der gleichen Anwendung des gemeinsamen rechtlichen Besitzstandes der Gemeinschaft (das Schengener Abkommen) nicht aufgegeben werden kann". Gleichzeitig warf die EU der russischen Seite vor, sie versteife sich auf eine politische Argumentation, was eine Erörterung der praktischen und technischen Fragen nicht zulasse. Dabei ist diese Haltung der EU natürlich eine ausgesprochen politische und zudem geht es um prinzipielle Probleme. Denn es geht nicht nur darum, daß das nördliche Ostpreußen ein Bestandteil der Russischen Föderation ist, sondern auch darum, daß der "Oblast Kaliningrad" ein strategischer Vorposten, das Hauptquartier der baltischen Flotte und ein Raketenstandort ist. Schon deshalb will Rußland seine Landverbindung zu seiner Exklave sichern. Nach der Terroraktion in Moskau wird dieses Element noch größeres Gewicht erlangen.

Die beiden russischen Ostseehäfen, über die die meisten Im- und Exporte Rußlands laufen, sind St. Petersburg und das frühere Königsberg. Erst Ende Oktober weilte der russische Premier Michail Kasjanow mit mehreren Ministern tagelang dort und beriet mit den regionalen Instanzen die Transportprobleme der Region. Die russische Iswestija brachte ihren Bericht unter der Überschrift: "Kasjanow verband Kaliningrad mit Rußland".

Außerdem wird die Ostsee-Enklave bislang über Litauen durch das aus der Sowjetzeit stammende Netz mit Strom versorgt. Auch das wird aber mit dem Anschluß Litauens an das EU-Stromnetz anders. Zwar fehlt es nicht an Angeboten, das mitteleuropäischen Stromnetz zu nutzen, doch brächte dies die energiepolitische Abhängigkeit dieses Gebietes und die Zahlungsverpflichtungen gegenüber der EU - wenn das keine prinzipiellen politischen Fragen sind!

Putin wollte am 24. Oktober bei einem zweistündigen Treffen in Berlin diese Problematik mit Bundeskanzler Gerhard Schröder erörtern. Auch dazu kam es wegen des Moskauer Geisel-Dramas nicht. Ob das nun nachgeholt wird, ist offen. Putin verspricht sich sicher von Deutschland Unterstützung in dieser Frage.

Russische Deutschlandexperten sind eher skeptisch: Deutschland sei zu keinem Kompromiß bereit. Das Treffen der EU-Außenminister schien dagegen kompromißbereiter. Nach dem 25. Oktober 2002 - dem die gleiche Bedeutung zukommt, wie dem 11. September 2001 - haben wir es mit einem veränderten Rußland und einem veränderten Putin zu tun. Ihr Beharren auf den eigenen staatlichen Interessen wird noch entschiedener sein. Die EU wird noch deutlicher zu spüren bekommen, daß es längst eine "amerikanisch-russische Ehe" gibt - wie die Washington Post kürzlich schrieb.

Schließlich hat Putin das internationale Recht auf seiner Seite. Kaum jemand bezweifelt völkerrechtlich, daß Rußland das Recht des freien Zugangs auf dem Landwege zu seiner Exklave hat wie die USA zu ihrem Bundesstaat Alaska, auch wenn dazwischen Kanada liegt. Und schließlich gibt es seit einem Jahrzehnt Verträge zwischen Rußland und Litauen bzw. Polen, die dieses Recht verwirklichen. Kommt es zu keiner Einigung zwischen Rußland und der EU, so gilt eben diese Regelung weiter.

 

Prof. Dr. Wolfgang Seiffert war bis 1994 Direktor des Instituts für osteuropäisches Recht der Universität Kiel und lehrt jetzt am Zentrum für deutsches Recht der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau.


 
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