© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/02 08. November 2002


9. November 1989
Eine nicht wiederkehrende Chance
Dieter Stein

Lernen sich zwei Deutsche auf einer langen Bahnfahrt kennen. Man tastet sich ab: Woher kommen Sie? Wo sind Sie geboren? Wo leben Sie jetzt? Kommt man aus den zwei ehemals gegensätzlichen Teilen Deutschlands, dann fragt man irgendwann: "Und wo waren Sie am 9. November?" Dann beginnen die Augen zu glänzen und jeder hat eine andere Geschichte zu erzählen.

Wie schnell sind große Momente vergessen. Der 9. November 1989 - vor 13 Jahren fiel die Mauer in Berlin. Es ist der heimliche, stille Nationalfeiertag der Deutschen. Man hatte danach aus Mangel an Mut den blutleeren 3. Oktober 1990, das Datum des technischen Vollzugs der Einheit, zum Nationalfeiertag erhoben. Ein Tag, der nur den Verstand anspricht. Der Tag, an dem aber die Herzen wiedervereint wurden, ist und bleibt hingegen der 9. November 1989.

Nicht jeder war in Berlin, als kurz nach 21 Uhr an diesem kalten Novemberabend der erste Grenzkontrollpunkt an der Bornholmer Brücke zwischen Prenzlauer Berg und Wedding kapitulierte und die anströmenden Bürger zur Westseite der geteilten Stadt durchließ.

Auch an der bei Nacht hellerleuchteten innerdeutschen Grenze entlang von Bayern, Hessen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein überraschte damals die Nachricht die Menschen beim Schlafengehen. Den Qualm der in kilometerlangen Staus auf den Transitautobahnen wartenden Zweitakter trieb der kalte Wind in Schwaden auf die Gegenfahrbahnen, auf denen bereits die ersten von ihren Stippvisiten zurückkehrten. Es ist das Gefühl großer Heiterkeit, das viele von diesem Tag in Erinnerung haben. Trotz der in Jahrzehnten mit brutaler Gewalt aufrechterhaltenen Spaltung, trotz Opportunismus, Anerkennung und Kollaboration in Ost und West brach sich an keiner Stelle Rache und Gewalt, sondern nur sprachlose Freude Bahn.

Niemand stellte damals ernsthaft in Frage, daß es sich um ein großes Wiedersehensfest einer zerrissenen Familie handele. Doch die Deutschen wären nicht sie selbst, fänden sie nicht schnell wieder zur Tugend des Bedenkentragens und des gepflegten Zwists zurück.

So lebt die Erinnerung an den Tag der Freude abseits der Öffentlichkeit, im kleinen Freundeskreis, in Familien, in abgeschiedenen Zirkeln fort, in Zonen, die von Scheinwerfern und Fernsehkameras nicht erfaßt werden.

Die Deutschen sind ein abwartendes, zögerliches Volk. Sie haben die Teilung überwiegend still erduldet und sich sogar zum großen Teil damit abgefunden. Die Ketten wurden nicht mit Gewalt gesprengt. Erst als die Scharniere der Gefängnistore morsch waren und das Mauerwerk barst, wuchs der Mut der Massen, aufzustehen.

Die Chance, die der 9. November 1989 uns Deutschen bot, die Chance, unsere nationale Zukunft selbst zu bestimmen, darf nicht verspielt werden. Noch steht Deutschland der Weg zur Regeneration offen. Ein vergleichbarer glücklicher Moment wird so schnell nicht wiederkehren.


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