© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/02 01. November 2002

 
Das Entschwindende festhalten
Radikaler Realismus: Die Ausstellung "Edouard Manet und die Impressionisten" in der Galerie Stuttgart
Wolfgang Saur

Die Malerei des Impressionismus, vornehmlich der Franzosen, gilt heute als das bildkünstlerische Nonplusultra, ist die beliebteste Stilform weit und breit, ja entspricht einer populären Auffassung von "Kunst überhaupt". In Stuttgart, wo diese Epoche aktuell zu besichtigen ist, herrscht entsprechend großer Andrang, die Liebhaber kommen in Scharen.

Edouard Manet (1832-1883), der große Vorbereiter und Anreger der Bewegung, ihrem späteren Kreis jedoch nur bedingt zugehörig, brach nach seinem Studium beim Historienmaler Thomas Couture mit der akademischen Konvention und bildete in den sechziger Jahren eine flächige und farbkontrastreiche Malweise aus.

Charakteristisch stehen hierfür seine Spanienbilder, die eine Ausstellung in Paris derzeit würdigt. Die Schlüsselwerke jener Jahre verursachten Skandale, so die "Musik im Tuleriengarten" (1862), das durch seinen dezentralen Figurenreichtum und die perspektivische Unklarheit diffus wirkt. Der betrachtende Blick taumelt und findet nirgends eine organisierende Struktur.

Entsetzt war das Publikum auch über die 1865 im Salon präsentierte "Olympia", die Aktdarstellung einer schönen Kurtisane auf ihrem Lager. Das Sujet hatte eine große Tradition seit der Renaissance, doch schockierte jetzt die Kälte und Gleichgültigkeit, mit der die junge Frau den Betrachter anblickt. Der unsinnliche Körper wurde weder pornographisch dargeboten noch moralisiert; vor allem boykottiert Manet die traditionelle Idealisierung als "Frau Venus" mit mythologischem Beiwerk.

Das Publikum reagierte wütend auf diese Provokation, zu Unrecht, "denn wer hätte den Ton seiner eigenen Fühllosigkeit gegen das Göttliche in Mensch und Natur, den Materialismus seiner Lebensform und Weltanschauung, das Asoziale und Hochbürgerliche der Gesellschaft von 1870 so treffend repräsentiert wie Manet in diesen herrlichen Flächen absoluter Malerei!" (Schmidt)

Diese Meisterwerke der 1860er Jahre, aber auch Spätwerke wie die "Bar in den Folies-Bergère" (1882) vermißt man in Stuttgart schmerzlich, um so mehr, als einem dort die erste umfassende deutsche Würdigung Manets versprochen wird. Tatsächlich hat man sich jedoch mit der Ausstellung, die den großen Erweiterungsbau der Staatsgalerie eröffnet, ganz auf die zweite Periode Manets in den 1870er Jahren konzentriert, die diesem biographisch auch eine enge Verflechtung mit dem eigentlichen Impressionistenkreis brachte.

Folgerichtig führen Weg und Sichtachse zum Neubau den Besucher direkt auf die große Ölskizze, die Manet vom Kollegen Monet und dessen Frau 1874 in Argenteuil gemalt hat, im selben Jahr, als der erste Auftritt der Sezession bei Nadar die Pariser verblüffte. Gezeigt werden 80 Ölbilder und 40 graphische Arbeiten, neben Manet: Renoir, Degas, Monet, Caillebotte, Daubigny, Jongkind und Morisot: eine gute Gelegenheit, den französischen Impressionismus im Zusammenhang zu studieren.

Und doch: Wichtige Vertreter fehlen ganz, große Kompositionen gibt es nur wenige zu sehen, viele Exponate sind zweit- und drittklassig, der ehrfurchtsvollen Überhöhung von Entwürfen zu "Klassikern" geschuldet. Daß dieser Rückblick ein so fragmentarisches Bild des Impressionismus vermittelt, hat auch damit zu tun, daß die Pariser den Stuttgartern die kalte Schulter gezeigt und lediglich zwei Arbeiten beigesteuert haben. Freigiebiger waren die Amerikaner und Schweizer.

Eine Auseinandersetzung mit Schlüsselwerken ist dennoch möglich. Einen fulminanten Auftakt setzen zwei Bilder Manets aus dem Jahr 1867: "Die Weltausstellung" und "Pferderennen in Longchamp". Das erste kombiniert die räumliche Desorientierung als formale Innovation mit dem neuen Thema der Industrie und Technik, das zweite das Motiv des Pferdesports als neuartiges Freizeitvergnügen mit dem Epochenthema der Beschleunigung. Formaufgelöst und mit energischem Pinsel läßt Manet zentralperspektivisch die Zuschauermassen als nur summarisch konturierte Fluchtlinien weitwinklig zum unteren Bildrand hin ausstrahlen und reißt so eine asymetrische Mitte auf, aus der sechs Reiter frontal auf den Betrachter zusprengen. Dadurch verdichtet er das Thema Dynamik zum sinnfälligen Ausdruck.

Der Impressionismus entwickelt den Realismus weiter und radikalisiert ihn. Sein Ehrgeiz geht auf die "eigentliche Wirklichkeit", die nun - postidealistisch - rein säkular und äußerlich verstanden wird. Das betrifft die komplette symbolische Konstruktion der Welt im Bild. Thematisch erlangen jetzt die Aspekte des modernen Lebens, bislang ästhetisch verachtet, Kunstwürdigkeit: Großstadt, Alltagsszenen, Freizeit, Arbeit, Industrie und Technik, bis hin zu pathologischen Randerscheinungen wie dem Alkoholiker und dem Selbstmörder. Vor dem zeitgenössischen Hintergrund der napoleonischen fête impériale, der pompösen Haussmannisierung von Paris, bourgeoiser Protzerei und hedonistischer Vergnügungssucht zeigen die Impressionisten ungerührt die soziale Frigidisierung in der Beziehungslosigkeit ihrer Figuren auf. Ihr Streben nach Authentizität vollendet sich formal im radikalen Subjektivismus der Wahrnehmung, indem "Realität" jetzt bedeutet: die Widergabe des optischen Eindrucks eines Gegenstands in seiner Augenblickswirkung, so wie Baudelaire definiert hatte: "Die Modernität ist das Vorübergehende, das Entschwindende, das Zufällige." Daher das Ausschnitthafte so vieler Darstellungen, die Fragmente einer aus ihrer Mitte gerutschten Welt zeigen, im Kontrast zur Tradition, welche die Bildkomposition als Weltganzes chiffriert hatte. Diese "offene Form" nimmt gewissermaßen unsere aktuelle Entgrenzungserfahrung in der Globalisierung vorweg.

Manets Figurenbilder halten noch am Interesse an den Personen und ihren sozialen Beziehungen, damit auch am konstruktiven Charakter der Malerei fest. Die offene Form "vollendet" sich erst in der Formauflösung der Landschaftsmalerei, etwa Monets "Feldern im Frühling" (1887) aus der Stuttgarter Staatsgalerie, "mit ihren beiden in wogenden Farbtupfern versinkenden, völlig gesichtslosen Menschen" (Conzen). Hier treten helle Farbpalette und Licht in der Vergegenwärtigung von Atmosphäre und Luft absolut ins Gewicht und verdrängen alle sprachliche Bedeutung. Die "Demokratisierung" der Bildgegenstände auf ihre rein visuelle Erscheinungsform hin verabschiedet schließlich auch den Menschen selbst und nivelliert die Welt als Bedeutungsraum zum snobistischen Okkasionalismus ästhetischer Reize. Symptomatisch dafür etwa Degas, der "das winzige Bildchen einer manetschen Birne neben eine Jupiter-Darstellung von Ingres hängte mit der Begründung, daß eine solcherart gemalte Birne ohne weiteres einen Gott ausstechen könnte" (Moore). Eine derartige "Malerei der Oberfläche" verkündet also einen ganz direkten Materialismus, wie ihn die heutige Konsumgesellschaft zur Kenntlichkeit entstellt hat. Wenn bei den Impressionisten der "Nuancenkult" um die valeurs das inhaltliche Engagement ersetzte, so wird jener deutbar als parasitäre Genußform der neuen wirtschaftlichen Opulenz und steht für den an Gemeinschaftswerten desinteressierten Liberalismus einer egoistischen Konkurrenzgesellschaft (Hermand). So gesehen, hat sich hier bürgerliche Emanzipation als kritisch-affirmative Geschmacksrebellion artikuliert, eine Postmoderne avant la lettre.

Es ist deshalb notwendig, sich bei aller Faszination auch ein kritisches Auge auf die impressionistische Malerei zu bewahren, ihre Defizite zu thematisieren und nicht jedes Bildzeugnis, oftmals nur als Vorstudie gedacht, zum grandiosen Meisterwerk aufzuwerten.

 

Die Ausstellung ist bis zum 9. Februar 2003 in der Staatsgalerie Stuttgart, Konrad-Adenauer-Straße 32, täglich außer montags 10 bis 20 Uhr, donnerstags bis 21 Uhr, zu sehen. Der Katalog kostet 23 Euro. Info: 07 11 / 470 40 250, Internet: www.staatsgalerie.de  


 
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