© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/02 01. November 2002

 
Pankraz,
das Radieschen und der Muff der Avantgarde

Es gibt Bücher, wo der Titel mehr wert ist als sämtliche folgende Kapitel zusammengenommen. Auch bei Wolfgang Englers "Die Ostdeutschen als Avantgarde" (erschienen im Berliner Aufbau Verlag) ist das der Fall. Den Text kann man vergessen, aber der Titel reizt zum Nachsehen und Vergleichen.

Der Text: Eine sämige, mit schiefer Schlachtordnung geführte Rechtfertigung der verflossenen DDR-Verhältnisse, wie sie der Autor schon früher von sich gegeben hat, unter dem Tenor "Es war zwar unfrei, aber gemütlich, jeder konnte, wenn er schön das Maul hielt, seine Radieschen im Schrebergarten anbauen". Auch ein Schuß Gemeinheit ist dabei: Als "Ostdeutsche" gelten nur jene maulhaltenden Radieschengärtner; die vier Millionen DDR-Bewohner, die zwischen 1949 und 1989 unter Protest aus dem Land flüchteten oder die dagegen anmaulten und deshalb eingesperrt wurden, immerhin ein knappes Viertel der Gesamtbevölkerung, rücken nicht ins Bild.

Der Titel: Eine schöne Provokation, wer immer mit "Ostdeutschen" gemeint sein mag, die Maulhalter oder die Maulaufreißer oder beide zusammen. Denn als Avantgardist hat sich kaum einer von ihnen gefühlt. Die meisten Flüchtlinge oder "Ausgereisten" haben sich schnell und bemerkenswert reibungslos in den Mainstream des Westens eingefügt, haben zielstrebig ihre Chance gesucht und meistens auch gefunden. Die Daheimgebliebenen ihrerseits dachten nicht daran, nach irgendeiner Richtung hin Avantgarde zu spielen, an der Spitze zu marschieren. Zwar sang man in der FDJ "Wir sind die junge Garde des Proletariats", doch war allen dabei klar, daß diese Garde eher eine politökonomische Nachhut war statt einer Vorausabteilung.

Selbst die herrschende Parteiclique wußte über ihren rückwärtigen Status genau bescheid. Ihre Hauptparole durch all die vierzig Jahre hindurch war das "Einholen". Man wollte den Westen "einholen". Eine Zeit lang gab es die Steigerung "Den Westen überholen, ohne ihn einzuholen", doch das legte sich wieder, weil man die irre Unlogik des Spruchs offensichtlich einsah. Bis zuletzt dominierte in den Referaten der Funktionäre jener Topos, der in dem Billy-Wilder-Film, "Eins, zwei, drei" so schön durch den Kakao gezogen wird: "Der Westen steht am Abgrund, am Rande des Grabes, und mit Hilfe des so und so vielten Fünfjahresplans werden wir ihn in Kürze einholen und überholen."

Tempora mutantur. Wenn heute ein Lobredner des schlimmsten DDR-Muffs wie Engler ausgerechnet die Radieschengärtner-Fraktion der "Ostdeutschen" zur Avantgarde für Gesamtdeutschland erklärt, so geht er von der (nicht ganz unrichtigen) Beobachtung aus, daß sich das politische, wirtschaftliche und geistige Klima in diesem Gesamtdeutschland in den letzten Jahren grundlegend gewandelt hat. Der Muff, das eifrige Sicheinfügen in stickige, unfreie und gleichmacherische Verhältnisse bei gleichzeitigem verdruckstem Herumgemosere, ist auch im ehemaligen Westen zur weithin akzeptierten Lebensform geworden. Die herrschenden Kräfte haben eine Art "DDR light" geschaffen, und Engler registriert es vergnügt und gibt fachmännische Ratschläge unter Berufung auf alte DDR-Bräuche.

Wie aber steht es mit dem Avantgarde-Status der "Ostdeutschen", wenn man die ganze, im Laufe der Jahrzehnte fluktuierende und sich wandelnde DDR-Bevölkerung ins Auge faßt und deren Sozialverhalten prüft? Da sieht die Sache doch sehr anders aus. Ohne zu glorifizieren, darf man dann konstatieren, daß nicht die Muffigkeit des Sichanpassens die Regel war, sondern eine Aufsässigkeit, eine Verweigerung des Mitspielens um jeden Preis, ein Risikobewußtsein und ein genaues Abwägen und kaltblütiges Wahrnehmen von Lebens- und Freiheitschancen.

Millionen sind geflüchtet, unter Preisgabe vertrauter Verhältnisse, auch nachdem die Mauer errichtet worden war und Flucht nur noch unter Lebensgefahr und mit Einsatz größter Schlauheit und Entschlossenheit möglich war. Hunderttausende haben die Ausreise beantragt, obwohl sie genau wußten, daß damit gesellschaftliche Ächtung, Arbeitslosigkeit und Gefängnisaufenthalte verbunden waren. Viele Tausende haben sich geweigert, "mitzumachen", Stasi-Spitzel zu werden, die irren Parolen nachzubeten, und sie haben damit bezahlt, daß sie als "Assis" (Asoziale) beschimpft wurden und demütigende Sklavenarbeit verrichten mußten.

Schließlich wäre auch von der Masse der übrigen so manches Aufsässige und Abenteuerliche zu erinnern. Da ein einigermaßen behagliches Leben bei strikter Beachtung der staatlichen Auflagen gar nicht möglich war, wurde faktisch jeder einzelne zu seines kleinen Glückes eigenem Schmied, übte sich im Aufbau illegaler Beziehungen und Durchstechereien, um an dieses oder jenes heranzukommen. Er wurde zum Meister der Improvisation.

Und zum Meister gesunder Skepsis wurde er auch, nicht zuletzt in Hinblick auf die von oben verordnete Arschkriecherei gegenüber gewissen ausländischen "Freunden", die alles besser wußten und deren Lebensstil und Macken man ohne Rückfrage übernehmen sollte. Gerade was Improvisationstalent und skeptischen Durchblick angeht, wuchs bei fast jedem "Ostdeutschen" ein Potential heran, das auch heute noch in den Gehirnkammern gespeichert ist und Wirksamkeit entfaltet.

Ob dergleichen zum Avantgardesein taugt oder nicht, zum Vorbildsein taugt es in vielen Fällen, und es würde den ehemaligen "Wessis" gewiß nicht schaden, wenn sie sich manchmal ausdrücklich ein Vorbild an den ehemaligen "Ossis" nähmen. Diese sollten sich um Himmels willen nicht von sinistren PDS-Soziologen und "Ostalgie"-Spezialisten einreden lassen, sie hätten nur Muff und Sehnsucht nach "sozialer Geborgenheit" in die gemeinsame deutsche Zukunft einzubringen und die muffige Vergangenheit sei die reale Perspektive für morgen oder übermorgen. Davon kann nicht im mindesten die Rede sein, hoffentlich nicht. Avantgardisten sehen jedenfalls anders aus.


 
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