© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/02 01. November 2002

 
BLICK NACH OSTEN
Vom Westen im Stich gelassen
Carl Gustaf Ströhm

Die Botschaft Ungarns hatte am 23. Oktober zum Empfang geladen - in den historischen Räumen der Wiener Bankgasse, wo schon zu k.u.k.-Zeiten die Gesandtschaft residierte. Stephanskrone und roter Stern haben schon diese historischen Hallen verziert. Nach dem Ende des Kommunismus kehrte das alte königliche Wappen wieder zurück - und im großen Saal wurde das Gemälde aufgehängt, auf dem Kaiser Franz Josef mit der heiligen Stephanskrone zum König von Ungarn gekrönt wird.

Alles schien vertraut - und doch war vieles plötzlich anders. Anlaß für den großen Empfang war die Feier des Jahrestages der ungarischen Revolution von 1956. Damals erhoben sich die Ungarn - in einer niemals zuvor und niemals danach vorstellbaren Einigkeit - gegen die kommunistische Schreckensherrschaft und gegen die sowjetische Besatzungsmacht.

Und während ich mich in die Warteschlange am Eingang einreihe, um den Gastgebern die Hand zu schütteln, überfällt mich die Erinnerung an 1956. Damals fuhr ich als junger Journalist mitten in die Budapester Revolution hinein: An der Margaretenbrücke standen Sowjet- Panzer, das ZK-Gebäude war von den Freiheitskämpfern gestürmt. Auf den Bürgersteigen lagen die Leichen der Gefallenen. Junge Leute standen mit ihren Kalaschnikows an den Straßenecken. Auf meist abgeschabten Ziviljacken hatten sie rot-weiß-grüne Armbinden angebracht. Dann sah ich zum ersten Mal die imposante neugotische Fassade des Parlaments - davor eine ganze Kolonne sowjetischer Panzer. Angeblich wollten sich die Russen zurückziehen, nachdem die Freiheitskämpfer in der ersten Runde gesiegt hatten und die KP-Diktatur zusammengebrochen war.

Das waren damals keine geschniegelten Diplomaten und keine wichtigen (oder wichtigtuerischen) Funktionäre. Ich sehe den völlig übernächtigten Imre Nagy vor mir, der plötzlich vom KP-Apparatschik und Moskau-Emigranten zum ungarischen Patrioten und Märtyrer emporwuchs. Ich sehe den legendären General Pál Maleter, hochgewachsen, mit seiner Lockenmähne: Ein Offizier, der nicht auf sein Volk schießen wollte und der durch Treuebruch und Hinterlist seiner sowjetischen Verhandlungspartner am Galgen endete. Und ich werde nie den 3. November 1956 vergessen, als wir in der ungarischen Provinzstadt Raab (Györ) zum Präsidenten des Revolutionsrates von Transdanubien, Attila Szigeti, gerufen wurden. Der hochgewachsene, breitschultrige Mann, der mit seinem roten Schnauzbart wie ein Bilderbuch-Ungar aussah, bat uns - während unten auf der Straße Panzer um Panzer der Roten Armee in Richtung österreichischer Grenze rollte, wir möchten doch Uno, Amerikaner und - so sagte er ausdrücklich - Bundeskanzler Konrad Adenauer verständigen, daß Ungarn um Hilfe bitte, auch um militärische Hilfe.

Wir wagten ihm nicht zu sagen, daß wir selber Gefangene waren, weil die Sowjets die Grenze nach Westen bereits dichtgemacht und die Telefone gekappt hatten. Ein sowjetischer Panzeroffizier, dem wir an einer Straßensperre unsere westlichen Pässe zeigten, schleuderte die Dokumente ins Wageninnere und brüllte nur: "Zurrick!"

Im Treppenhaus treffe ich einen alten Kollegen, der gleichfalls in Budapest 1956 dabei war. Jetzt hat Ungarn einen Premier, der zugibt, Offizier der kommunistischen ÁVÓ (Stasi) gewesen zu sein. Übrigens - der oben erwähnte Szigeti endete vierzehn Tage nach unserem dramatischen Gespräch durch Selbstmord. Nach seiner Verhaftung durch die ÁVÓ sprang er aus dem Fenster. Er war sofort tot.


 
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