© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/02 01. November 2002

 
Kolumne
Volksentscheid
Heinrich Lummer

Der Wähler hat entschieden. Die Entscheidung war knapp, aber ausreichend. Über die Gründe ist viel geredet worden. Hätte die Regierung dem Souverän vor der Wahl die Wahrheit gesagt, wäre der Wechsel fällig gewesen. Erst nach Tisch erfuhr der mündige Wähler von den tatsächlichen Schulden, daß nicht Sparen, sondern Steuererhöhungen auf der Tagesordnung stehen. Er erfuhr, daß der Stabilitätspakt zum Schutz des Euro mißachtet wurde und jene Reformen ausblieben, die Deutschlands Zukunft sichern würden. Er gewann nach dem Motto: Wer lügt, gewinnt. Wenn Rot-Grün dem Wähler vor der Wahl den Koalitionsvertrag vorgelegt hätte, wäre diese Koalition nicht wiedergewählt worden. Nun ist es zu spät. Aber: Demokratie ist Herrschaft auf Zeit. Nun muß der Souverän wieder vier Jahre warten, obwohl schon jetzt 62 Prozent der Wähler sich betrogen fühlen. Es darf sich "verarscht" fühlen, aber er kann es nicht ändern. Und in vier Jahren ist vielleicht alles wieder vergessen. Dann beginnt das Spiel "wer lügt gewinnt" aufs Neue.

Das sollte sich tunlichst ändern. Und dies geht ganz einfach: Man ermögliche einen Volksentscheid zur Auflösung des Parlaments, damit Neuwahlen möglich werden. Wenn das Volk die Schnauze von seiner Regierung hinreichend voll hat, weil es belogen und betrogen wurde oder weil neue wichtige Themen, die bei der Wahl nicht zur Debatte standen, zur Entscheidung fällig werden, dann sollte diese Möglichkeit bestehen. In Berlin ist sie zweimal erfolgreich genutzt worden. Leider gibt es diese Regelung nicht für den Bund und nicht für die meisten Länder. Eine solche Regelung hat einiges für sich. Sie stellt einen sinnvollen Schritt zur Verstärkung der sogenannten "plebiszitären Elemente" dar. Das Volk stimmt nicht über Steuererhöhungen oder den Kauf von Kriegsgerät ab oder über den Wechselkurs, sondern für vorzeitige Neuwahlen durch Auflösung des Parlaments.

Das Recht sollte sich der Wähler unbedingt sichern. Wenn er sich hinreichend "verarscht" fühlt, wählt er sich eine neue Regierung, da die Regierung bekanntlich kein neues Volk wählen kann. Wenn eine solche Regelung besteht, kann sie einen disziplinierenden Effekt für die Parteien darstellen. Vielleicht werden sie ihre Lügen in Grenzen halten, wenn sie wissen, der Wähler kann sie jederzeit bestrafen. Er muß nicht wieder vier Jahre warten, um den Souverän spielen zu können. Die Opposition sollte einen entsprechenden Gesetzesvorschlag unverzüglich einbringen.

 

Heinrich Lummer, Berliner Innensenator a. D., war bis 1998 Bundestagsabgeordneter der CDU.


 
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