© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/02 01. November 2002


"Den Krieg mit aller Härte führen"
Der Kaukasus-Experte Alexander Rahr über den Anschlag von Moskau und das fast vergessene Töten in Tschetschenien
Moritz Schwarz

Herr Rahr, durch die Geiselnahme von Moskau ist der schon fast vergessene Tschetschenienkrieg wieder in den Focus der Medien gerückt. Haben die Geiselnehmer also ihr Ziel erreicht?

Rahr: Die Terroristen haben es geschafft, die Weltöffentlichkeit darauf hinzuweisen, daß es den Tschetschenienkrieg noch gibt. Vor allem aber haben sie die Russen daran erinnert, denn mit diesem Anschlag hat der Krieg die russische Hauptstadt erreicht.

Handelt es sich bei dem tschetschenischen Kommando in Moskau um Freiheitskämpfer, die zum letzten Mittel gegriffen haben oder um fundamentalistisch verbrämte Kriminelle, die das Geschäft des Terrors betreiben?

Rahr: Mit diesem simplen, moralisierenden Muster kommen sie der Situation in Tschetschenien nicht bei. Um die Verhältnisse dort richtig zu beschreiben, bedarf es einer differenzierenderen Herangehensweise.

Tatsächlich zerfällt der Tschetschenien-Konflikt nach 1991, nach Auflösung der Sowjetunion, in zwei Phasen.

Rahr: So ist es, da ist zunächst die Phase bis 1994, als der erste Tschetschenienkrieg mit dem Einmarsch der Russen begann und bis zur Kapitulation 1996 durch Jelzins Beauftragten, den ehemaligen General Lebed, dauerte. Danach beginnt die Zeit der tschetschenischen Quasi-Unabhängigkeit bis zum Beginn des zweiten Krieges 1999. Der erste Krieg wurde in gewisser Weise tatsächlich für die Unabhängigkeit Tschetscheniens gefochten. Natürlich war aber schon damals die kriminelle Unterwanderung der tschetschenischen Unabhängigkeitskämpfer sehr stark. Der Krieg wurde teilweise von kriminellen, nicht nur tschetschenischen Organisationen in Moskau gelenkt, die nach dem Zerfall der Sowjetunion schwunghafte Aktivitäten in der Kaukasus-Republik entfalteten und Tschetschenien zum korruptesten Gebiet innerhalb der Russischen Föderation machten.

Trotzdem kann man von einer authentischen tschetschenischen nationalen Befreiungsbewegung sprechen, während Moskau schließlich darauf beharrt, es handele sich ausschließlich um "Banditen"?

Rahr: Das ist richtig, und der untergetauchte Aslan Maschadow ist auch der gewählte Präsident des Landes - und das sogar nach den Gesetzen der Russischen Föderation. Er hat aber jeden Kredit verspielt, nicht nur in den Augen der Russen, wohl auch in den Augen der Weltöffentlichkeit, denn er hat sein Land nicht nur den Wahhabiten in die Hände gespielt, sondern auch sonst nichts für dessen Aufbau getan. Vielleicht waren ihm die Hände gebunden, aber das islamistisch-wahhabitische Regime, daß er zugelassen hat, war von einer derartigen Brutalität gekennzeichnet, daß der Verweis auf dessen Existenzrecht völlig zu Recht niemand beeindruckt. In Deutschland herrscht leider noch viel zu oft die holzschnittartige und romantisierende Vorstellung vom kleinen unschuldigen Volk der Tschetschenen, das vom großen russischen, imperialistischen Bruder geknechtet wird - obwohl niemand die Greueltaten der russischen Armee leugnet.

In der zweiten Phase, nach 1996, kam dann der Faktor der Islamisierung hinzu.

Rahr: Die Verhältnisse haben sich in der Tat radikalisiert. Nach dem Abzug der Russen 1996 sickerten islamische Extremisten ins Land und haben dort das genannte Wahhabitentum verbreitet, die radikalste Form des Islam. Man organisierte Entführungen und Ermordungen, ließ hinrichten und etablierte ein Regime, das große Ähnlichkeiten mit dem Taliban-Regime in Afghanistan hatte. Erst haben diese Kräfte aus dem arabischen Raum die Tschetschenen zwar in ihrem Unabhängigkeitskampf unterstützt, aber nur, um sie anschließend für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Maschadow suchte den Schulterschluß mit den arabischen Extremisten und verlor schließlich de facto die Macht an sie.

Hat sich der tschetschenische Nationalismus nicht vielleicht nur - wenn auch im Zeitraffertempo - zum Islamismus fortentwickelt, so wie das auch in anderen moslemischen Ländern seit den achtziger Jahren zu beobachten war?

Rahr: Die Tschetschenen waren nie typische Mohammedaner. Keines der Sowjetvölker war je besonders religiös ausgerichtet. Deshalb wirkt der Islamismus dort heute etwas künstlich. Allerdings kann sich so etwas nun natürlich auch entwickeln. Aber ich glaube nicht, daß zum Beispiel ein Mann wie Hatab, der sich zeitweilig zu einer Art obersten Feldherren der Tschetschenen emporgeschwungen hat, selbst aber Jordanier ist und Bin Laden dient, tatsächlich für die tschetschenische Unabhängigkeit kämpft. Diesen Kräften geht es um die Destabilisierung der kaspischen Region und um eine Art heiligen Krieg gegen Rußland.

Hat der Islamismus also den tschetschenischen Unabhängigkeitskampf absorbiert?

Rahr: Nein, der tschetschenische Unabhängigkeitskampf ist 180 Jahre alt, und natürlich ist er nicht einfach zugunsten einer anderen Idee erloschen. Aber er wird derzeit durch den Einfluß islamischer Kräfte überlagert. Und ich glaube, daß die Einreihung der tschetschenischen Sache in das Netzwerk des arabischen Terrorismus den Tschetschenen letztendlich schadet.

Steht das tschetschenische Volk denn noch hinter seinen Unabhängigkeitskämpfern?

Rahr: Die Tschetschenen wollen ihre nationale Unabhängigkeit, aber die Mehrheit möchte dafür nicht diesen langwierigen, selbstzerstörerischen und ausgesprochen brutalen Krieg führen. Die Menschen wünschen sich vor allem zunächst einmal Stabilität in ihrem Land. Wir sorgen uns im übrigen immer nur um die Tschetschenen, und vergessen dabei die Angst der anderen kaukasischen Kleinvölker vor Tschetschenien. Denn wenn sich die Russen endgültig zurückziehen, dann sind es vor allem die kleinen schwachen Nachbarn in der Region, die dem, was sich in Tschetschenien entwickelt, ausgesetzt sind.

Welche Rolle spielt das Öl in dem Konflikt?

Rahr: Im ersten Tschetschenienkrieg ging es dem damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin in der Tat vor allem auch um die Pipeline, die durch Tschetschenien lief. Doch inzwischen haben die Amerikaner zwei neue Leitungen um Tschetschenien herum gebaut - durch Dagestan und durch Kasachstan -, so daß das 1999 keine Rolle mehr spielte.

Ist das Problem also vor allem ein psychologisches: Kann es die ehemalige Großmacht nicht ertragen, ihrem eigenen Zerfall zuzusehen?

Rahr: Man sollte Präsident Putin nicht unterschätzen und glauben, er sei nur von blindem russischen Imperialismus geleitet. Der Mann weiß sehr genau, was er tut. Putin ist durchaus zu einer Autonomielösung für Tschetschenien bereit - aber nicht auf Kosten Rußlands, und er will auf gar keinen Fall, wie Jelzin, vor den Tschetschenen kapitulieren. Das Problem Putins ist, daß er seine Beziehungen zu Maschadow zerstört hat.

Daß der Tschtschenien-Konflikt im Prinzip ein Problem der Dekolonisation ist, liegt aber doch auf der Hand?

Rahr: Das ist richtig, das Pech der Russen ist es, daß sie keine auswärtigen Kolonien hatten, sondern sich diese direkt an das Mutterland anschließen, wodurch eine Aufgabe der Kolonien doppelt schwerfällt. Das Kolonialreich der Russen zerfiel zwar schon 1917, wurde aber von den Kommunisten - und das muß man betonen, weil wir das nur allzugerne vergessen - mit äußerster Gewalt wieder zusammengezwungen. Daß der tschetschenische Freiheitswille aber stets ungebrochen war, zeigt der Jubel der Tschetschenen, beim Vorstoß der Wehrmacht in den Kaukasus 1942. Stalin rächte sich dafür, indem er die Tschetschenen schließlich - das ganze Volk! - nach Kasachstan deportierte. Erst in den fünfziger Jahren wurden die Tschetschenen, wie andere Völker, rehabilitiert. Nach dem Ende der Sowjetunion gab es dann verschiedene Stimmen, darunter Alexander Solschenizyn, die Präsident Jelzin eine Aufgabe des Kaukasus empfahlen, weil sie die Folgen für Rußland voraussahen. Allerdings hatte Rußland beim Austritt einer Völkerschaft Angst vor einem Dominoeffekt. Und übrigens spielte damals auch der Konflikt Rußlands mit Japan um die Kurilen-Inseln eine gewisse Rolle: Man wollte den Japanern keinen Präzedenzfall der Aufweichung der Integrität des Territoriums der Russischen Föderation bieten. Denn auch bezüglich der Kurilen befürchtet man einen Präzedenzfall zu schaffen, für Gebietsansprüche Deutschlands, Finnlands und der baltischen Staaten.

Die Russen haben bereits 20.000 Mann in Teschetschenien verloren. In zehn Jahren Afghanistankrieg waren es dagegen nur 17.000 Mann. Wie ist dieser enorme Blutzoll in diesem winzigen Land zu erklären?

Rahr: Die Russen haben diesen Feldzug - typisch russisch - unvorbereitet und in völliger Überschätzung ihrer eingenen Kraft begonnen. Zudem trafen sie in Tschetschenien, auf ihre eigenen Kameraden aus Afghanistan, oftmals erfahrene Veteranen, die jetzt für ihre Heimat statt für die Rote Armee kämpften. Im Häuserkampf in der Hauptstadt Grosny wurden in wenigen Monaten alle Alpha-Einheiten, die Elitekämpfer der russischen Armee, von den Tschetschenen vernichtet. In Moskau aber hatte man sich den Waffengang kurz und schmerzlos vorgestellt.

Welches Interesse haben die Vereinigten Staaten in diesem Konflikt?

Rahr: Die Theorie, die USA betrieben die Desintegration der russischen Südflanke, halte ich nicht für plausibel, vor allem nicht seit dem 11. September. Denn die USA fürchten selbst die daraus entstehende Instabilität, sie fürchten sich vor "vagabundierenden" Atomwaffen und der Ausbreitung des Islamismus. Die Amerikaner wollen ein schwaches Rußland, aber kein schwächelndes.

Dann geben Sie der Argumentation Putins recht, der sagt, den Feind, den Rußland in Tschetschenien bekämpft, sei der gleiche, der den USA die Zerstörung ihres Welthandelszentrums angetan hat?

Rahr: Das ist mir zu simpel. Der Islamismus ist ein Element des Problems, insofern hat Präsident Putin recht. Aber es gibt eben auch all die anderen Faktoren, die Mafia, den tschetschenischen Freiheitswillen, den russischen Imperialismus, die Moskauer Ängste vor Verlust von Autorität und Souveränität, etc., die alle gar nichts mit dem Feind zu tun haben, den die Vereinigten Staaten bekämpfen.

Welche Politik würden Sie im Falle Tschetschenien der Bundesregierung empfehlen?

Rahr: Nicht nur zu moralisieren, wie es Außenminister Fischer in den letzten Jahren getan hat, sondern konkrete Vorschläge zu unterbreiten. Dazu gehört Rücksicht auf Rußland zu nehmen, aber auch die Rechte der Tschetschenen zu garantieren.

Müssen wir nicht auf die Entlassung Tschetscheniens aus dem Verband der Russischen Föderation drängen?

Rahr: Nein, das wäre fahrlässig, denn wir würden unsere Partnerschaft mit Rußland ruinieren und Tschetschenien, zur Zeit jedenfalls, Banditen und Extremisten in die Hände spielen.

Wir haben 1990 das Selbstbestimmungsrecht der Völker für die Wiedervereinigung genützt, wie können wir es mit gutem Gewissen den Tschetschenen vorenthalten?

Rahr: Wir können nicht nur für die Freiheit von Völkern eintreten, sondern müssen auch danach für sie Verantwortung übernehmen. Daß haben wir bisher nicht getan, also fehlt uns das Recht, uns aufs hohe moralische Roß zu setzen. Wo war denn der Westen, als in Tschetschenien nach dem Abzug der Russen die Menschenrechtsverletzungen im Namen des Islam begannen?

Allerdings haben auch die Russen einen brutalen Krieg geführt. Der Vorsitzende der Deutsch-Kaukasischen-Gesellschaft, Eckehard Maas, wirft den Russen schwere Menschenrechtsverletzungen vor.

Rahr: Wir haben es mit einem häßlichen Krieg zu tun, der unbeschreibliche Greueltaten auf beiden Seiten kennt. Nicht nur die Russen haben gewütet, auch die Tschetschenen haben russische Gefangene auf grauenhafte Weise massakriert.

Was ist dran am Vorwurf des Völkermords in Tschetschenien?

Rahr: Auch wenn es sich zweifellos um einen der grausamsten Kriege unserer Zeit handelt, so würde ich aber dennoch nicht einen Begriff wie "Völkermord" verwenden. Auch den Vorwurf des "Rassismus" der Russen gegenüber den Tschetschenen halte ich, bei aller Hemmungslosigkeit der Armee, für überzogen.

Welchen Einfluß wird der Anschlag von Moskau auf den weiteren Verlauf des Krieges haben?

Rahr: Durch die Geiselnahme und die vielen Toten bei der Erstürmung der Musical-Halle hat sich natürlich viel Haß bei den Russen aufgestaut. Das gibt Putin innenpolitisch freie Hand, um den Krieg nun mit äußerster Härte zu führen. Bedingung ist aber, daß es ihm gelingt, ihn damit auch in kürzester Zeit zu beenden. Gelingt das nicht, wird die Stimmung der Russen umschlagen, und sie werden das unbedingte Ende des Krieges fordern dann bleibt Putin vielleicht nur derselbe Weg wie 1996 Jelzin, also von Tschetschenien abzulassen.

Also haben die Rebellen durch ihren Anschlag den Krieg in eine finale Phase getrieben?

Rahr: Ja, aber da sich die Aufmerksamkeit der Welt leider schon sehr bald wieder von Tschetschenien abwenden und wieder dem Irak zuwenden wird, während der Haß der Russen zunächst anhalten wird, ist fraglich, ob zu ihrem Vorteil.

Sie haben die möglichen Entwicklungswege dieses Konfliktes dargestellt. Welchen halten Sie für den wahrscheinlicheren Ausgang?

Rahr: Die Rebellen sind inzwischen sehr unter Druck geraten, ich kann mir durchaus vorstellen, daß es den Russen nun doch gelingen wird, ihren Widerstand zu brechen. Die Frage ist aber, was kommt danach: Die Russen können dieses Land nicht auf ewig besetzt halten, wenn dessen Bevölkerung nicht in Rußland leben will. Wollen wir hoffen, daß die Russen beginnen nachzudenken.

 

Alexander Rahr ist Rußland-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) und zuständig für die Fachbereiche Kaukasus und Zentralasien. Rahr studierte Geschichte und Politikwissenschaft in München und absolvierte verschiedene Studienaufenthalte in den USA und Rußland. Er ist Koordinator des EU-Rußland-Forums der EU-Kommission, Leiter der Körber-Arbeitsstelle Rußland /GUS und Herausgeber des GUS-Barometers. 2000 veröffentlichte er die Biographie "Wladimir Putin. Ein Deutscher im Kreml" (Universitas-Verlag). Geboren wurde er 1959 in Taipeh / Taiwan.

 

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