© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    44/02 25. Oktober 2002

 
Glühende Zündschnur am Pulverfaß Europas
Vor neunzig Jahren begann der Balkankrieg, dessen nationale und politische Auswirkungen bis heute spürbar sind
Carl Gustav Ströhm

Ereignisse, die heute weitgehend vergessen sind, wirken oft bestimmend auf die Gegenwart ein. Das gilt besonders für die Balkankriege des beginnenden 20. Jahrhunderts, deren neunzigster Jahrestag Anlaß zum Nachdenken sein sollte. In ihnen zeigt sich nämlich, wie sehr die längst überwunden geglaubte Vergangenheit unser heutiges Handeln und Erleiden bestimmt. Am 15. Oktober 1912 brach das Osmanische Kaiserreich (der Vorläufer der heutigen Türkei) die diplomatischen Beziehungen zu Serbien, Bulgarien und Griechenland ab. Die drei aus der Erbmasse des Osmanenreichs in Kriegen und Revolutionen hervorgegangenen christlichen Balkan- und Südoststaaten erklärten, sie würden jetzt die Waffen sprechen lassen.

Schon im 19. Jahrhundert galt der Balkan als das "Pulverfaß Europas". Die Schwäche der einst furchterregenden türkischen Macht beflügelte die Aufsässigkeit der christlichen Völker gegen die Osmanenherrschaft. Dabei griffen die "jungen Völker" oft zu Methoden, die man nach heutiger Lesart schlichtweg als Terrorismus bezeichnen würde. Während der nationalen Aufstände gegen die türkische Fremdherrschaft wurden von den Serben Hunderte von Moscheen gesprengt und bulgarisch-mazedonische Aufständische erfanden die sogenannten "Eselsbomben" - Vorläufer der heutigen Autobomben. Einem Esel wurde eine Sprengladung umgebunden, dann ließ man ihn in einen dichtbevölkerten Marktplatz oder Basar laufen und brachte ihn zur Explosion, wobei oft Dutzende von Opfern zu beklagen waren. Diese Methode war besonders im Kampf um Mazedonien beliebt, das schon damals einen Zankapfel zwischen Serben, Bulgaren, slawischen Mazedoniern, Griechen und Albanern darstellte.

Der erste Balkankrieg wurde durch die Revolution der sogenannten Jungtürken beeinflußt, die eine straffere Verwaltung und Modernisierung des Osmanischen Reiches propagierten. Das veranlaßte Fürst Ferdinand von Bulgarien aus dem Hause Sachsen-Coburg-Gotha, die vollständige Unabhängigkeit seines bisher unter formaler türkischer Oberhoheit stehenden Landes zu proklamieren. Gleichzeitig annektierte Österreich-Ungarn 1908 das seit dem Berliner Kongreß 1878 von ihm okkupierte und verwaltete Bosnien-Herzegowina. In Serbien kam es zu nationalen Kundgebungen und der Forderung, das mittelalterliche Serbische Reich wieder herzustellen, das nach der Schlacht auf dem Amselfeld (Kosovo) 1389 vom islamischen Osmanenreich vernichtet worden war.

Am 13. März 1902 schlossen Bulgarien, Serbien, Griechenland und Montenegro den Balkan-Vierbund, wobei das zaristische Rußland Pate stand, das über die orthodoxen Balkanslawen seinen Einfluß im Südosten (Zugang zum Mittelmeer, Bosporus und Dardanellen) vergrößern wollte.

Der erste Balkankrieg endete mit einer schweren osmanischen Niederlage. Die serbische Armee drang bis an die Adria vor, fast alle Gebiete der europäischen Türkei gingen für die Osmanen verloren. Am 30. Mai 1913 wurde in London der Friedensvertrag unterzeichnet. Die Türkei trat alle ihre europäischen Territorien mit Ausnahme Albaniens ab. Die Insel Kreta wurde griechisch. Zugleich aber wurde sichtbar, daß die europäischen Großmächte ihre Ausgangspositionen für spätere Balkan-Machtkämpfe besetzten: Serbien wurde von den Westmächten und Rußland bevorzugt, während das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn eine Expansion Serbiens bis ans Mittelmeer und eine weitere Schwächung der Türkei zu verhindern suchten.

Bereits während des ersten Balkankrieges kam es zu Meinungsverschiedenheiten über die "befreiten" Gebiete. Serbien und Griechenland schlossen sich gegen ihren bisherigen Bündnispartner Bulgarien zusammen. Gegenstand des Konflikts war Mazedonien, das jeder der drei bisherigen Verbündeten für sich beanspruchte. Als Bulgarien bemerkte, daß seine bisherigen Verbündeten feindselige Geheimpläne ausheckten, griffen am 30. Juni 1913 bulgarische Truppen ihre bisherigen Waffenbrüder an. Doch Bulgarien geriet bald in eine aussichtslose Lage: Die gerade erst geschlagenen Türken begannen mit militärischen Drohungen, Rumänien besetzte und annektierte die bulgarische Süd-Dobrudscha. Die bulgarische Armee wurde von den Serben schwer geschlagen. Im Frieden von Bukarest (10. August 1913), durch den der zweite Balkankrieg beendet wurde, mußte Bulgarien alle seine Träume von einem Zugang zur Ägäis und von einem Gewinn Mazedoniens bis zum Ohrid-See begraben.

Die bulgarische Niederlage hatte schwerwiegende Folgen - nicht nur auf dem Balkan, sondern für die politisch-strategische Situation in ganz Europa. Serbien ging als Sieger hervor und erhielt das nördliche, sogenannte "Vardar"-Mazedonien. Griechenland erhielt Saloniki, Thrakien und "Ägäisch-Mazedonien". Bulgarien mußte sich mit einem schmalen mazedonischen Streifen, dem sogenannten "Pirin-Mazedonien" zufriedengeben. Zwar gelang es den Mittelmächten, einen unabhängigen albanischen Staat zu schaffen, der dem Vordringen der Serben (und damit Rußlands) ans "warme Meer" einen Riegel vorschob. Aber auf Druck der Westmächte mußte das überwiegend albanisch besiedelte Kosovo mit seinen Bodenschätzen an Serbien fallen. Das machte den albanischen Rumpfstaat faktisch lebensunfähig. Während Serbien sich als siegreiche Schutz- und Führungsmacht der "Südslawen" etablierte und eine aggressive Politik vor allem gegen Österreich-Ungarn zu führen begann, erhielt es in wachsendem Maße russische, britische und französische Unterstützung. Die gleichfalls "slawischen" Bulgaren aber schlossen sich in zwei Weltkriegen der deutschen Seite an, um ihr nationales Ziele der Wiedererlangung Mazedoniens zu verwirklichen.

Geradezu prophetisch klingen die Thesen eines Memorandums des österreichischen Außenministeriums an den damaligen deutschen Reichskanzler von Bethmann-Hollweg: "Von allen Balkanproblemen ist für Österreich die serbische Frage am wichtigsten und berührt am meisten seine vitalen Interessen. Der Gegensatz zwischen Österreich-Ungarn und Serbien besteht darin, daß die serbische Politik nach einer Vereinigung aller Serben und einer Abtrennung jener Gebiete Österreich-Ungarns strebt, die von Serben bewohnt werden. Dieser Gegensatz ist konstant und unversöhnlich, weil die Verwirklichung der großserbischen Idee unvereinbar mit der Erhaltung der Integrität der Monarchie ist... Deshalb kann man schon heute voraussehen, daß sich die serbische Frage in nicht ferner Zukunft gewaltsamen Lösungen nähern wird."

Das wurde am 5. August 1913 geschrieben. Elf Monate später fiel in Sarajevo der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 einem von der großserbischen Geheim- und Terrororganisation "Schwarze Hand" geplanten Attentat zum Opfer. Die unmittelbare Folge war der Erste, die mittelbare der Zweite Weltkrieg. Wenn man so will, kostete der Balkan, von dem Bismarck sagte, er sei nicht die Knochen eines einzigen pommerschen Grenadiers wert, Millionen von Deutschen das Leben. Was das Wiener Memorandum über die großserbische Idee sagte, hat bis Milosevic und über ihn hinaus seine erschreckende Gültigkeit behalten. Im Feuer der beiden Weltkriege waren die kleinen, scheinbar lokalen Balkankriege 1912/13 bald vergessen. Und doch waren sie in erheblicher Weise Auslöser großer Weltkatastrophen.

Französische Sicht des Balkanfeldzuges (Serbische Truppen befreien mazedonisches Dorf): Streitpunkt bis ins Kfor-Zeitalter


 
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