© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    44/02 25. Oktober 2002

 
Flucht und Ausreise als ständiges Druckmittel
Wolfgang Mayer meint, daß die DDR-Ausreisewilligen starke Kräfte der Stasi banden - zum Nutzen der Bürgerrechtsbewegung
Matthias Bath

Seit Gründung der DDR 1949 stellte die Abwanderung der Bevölkerung in den Westteil Deutschlands eines der größten Probleme für die kommunistischen Machthaber des zweiten deutschen Staates dar. Auch der Bau der Berliner Mauer 1961 vermochte nur die nahezu ungehinderte Ausreise aus der DDR zu unterbinden, nicht aber die weit verbreiteten Wünsche nach Ausreise und Übersiedlung insbesondere in die Bundesrepublik Deutschland zu beseitigen.

Der Erfurter Lehrer Wolfgang Mayer unternimmt in seiner politikwissenschaftlichen Dissertation den Versuch, sowohl die Bedeutung dieses Verlangens nach Ausreise für die innere Entwicklung der DDR, als auch die Entwicklung der Flucht- und Ausreisebewegung selbst nachzuzeichnen. Den Schwerpunkt der Darstellung nimmt dabei die Behandlung der sogenannten "Botschaftsbesetzungen" in Ost-Berlin und den Hauptstädten anderer Ostblockländer seit Ende der siebziger Jahre ein. Mayer sieht in diesen Fällen die "konsequenteste Form" der Bekundung des Ausreisewillens. Den Botschaftsbesetzern sei es vordergründig natürlich um ihre Ausreise in den Westen gegangen. Zugleich sei der Schritt zur Besetzung westlicher Botschaften für die Akteure nach "jahrelangem Kampf gegen das Staatssicherheitssystem DDR" aber auch der Höhepunkt ihres gewaltfreien Widerstands gewesen.

Besonders ausführlich geht Mayer auf die Besetzung der dänischen Botschaft in Ost-Berlin am 9./10. September 1988 durch 18 Thüringer Ausreisewillige, zu denen er selber gehörte, ein. Der Verfasser verfügt hierzu natürlich über eine Vielzahl von Informationen aus erster Hand. Gleichwohl untersucht Mayer die Flucht- und Ausreisebewegung auch unter allgemeinen Gesichtspunkten. Die Motivation der Ausreisewilligen sieht er weniger materiell-wirtschaftlich orientiert als vielmehr in dem Verlangen nach freier Entfaltung der eigenen Persönlichkeit und damit nach Wahrnehmung individueller Menschenrechte begründet. Solange Ausreisewillige keinen Kontakt zu Gleichgesinnten fanden, blieben sie dem System der DDR gegenüber zwar resistent, leisteten in der Regel aber keinen offenen Widerstand. Seit Mitte der siebziger Jahre kam es aber zunehmend zu Zusammenschlüssen von Bürgerrechtsinitiativen Ausreisewilliger, wie etwa der "Petition von Riesa" 1976, der "Weißen Kreise" ab 1983 oder der "Arbeitsgruppe Staatsbürgerschaftsrecht der DDR" 1987, die klar als offen systemoppositionelles Verhalten anzusehen sind.

Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR, dessen eigentliche, nach innen gerichtete Aufgabe in der ideologischen Gesinnungsüberwachung der Bevölkerung und der Unterdrückung abweichenden Verhaltens bestand, reagierte auf die Ausreisebewegung hysterisch. Bereits seit dem Mauerbau hatte das Hauptgewicht der "Abwehraktivitäten" des MfS in der Bekämpfung von Republikflucht und Fluchthilfe gelegen. Seit Mitte der siebziger Jahre kam der Kampf gegen die Ausreisebewegung hinzu. Schließlich war das MfS fast ausschließlich mit dem "Zurückdrängen" des ständig anwachsenden Heeres von Übersiedlungswilligen, insbesondere mit dem "Zersetzen" und "Liquidieren" von Zusammenschlüssen, beschäftigt. Die eskalierende Ausreise- und Fluchtwelle überforderte das MfS am Ende quantitativ und bescherte der DDR-Bevölkerung die für die Entwicklung der Revolution von 1989 erforderlichen Freiräume.

Damit gewinnt die Flucht- und Ausreisebewegung aber eine weitaus größere Bedeutung für das Ende der DDR, als ihr gemeinhin zugestanden wird. Die Darstellung der "Revolutionsgeschichte" des Jahres 1989, die sich bislang schwerpunktmäßig auf die Aktivitäten meist linksorientierter Bürgerrechtler konzentriert, bedarf so gesehen gewichtiger Ergänzungen. Matthias Bath

Wolfgang Mayer: Flucht und Ausreise; Botschaftsbesetzungen als Form des Widerstandes gegen die politische Verfolgung in der DDR, Anita Tykve Verlag, Berlin 2002, 728 Seiten, 24,90 Euro


 
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