© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    44/02 25. Oktober 2002

 
Die Botschaft des Ameisenbären
Klassische Moderne auf dem Prüfstand: Der Streit um die große Surrealistenschau von Werner Spies
Günter Zehm

Um die monumentale, prächtig anzusehende, von Werner Spies zusammengetragene und arrangierte Surrealismus-Ausstellung (zuerst in Paris, jetzt noch bis zum 24. November in Düsseldorf) ist eine interessante Debatte entstanden. Sowohl Zeithistoriker als auch unverdrossene Revolutionäre klagen Spies an, den Surrealismus "musealisiert" und ihn damit seiner sämtlichen subversiven und aggressiven politischen Zähne beraubt zu haben. "Zu wenig Dadaismus, zu viel Pittura metafisica." Aus den beiden wütend springenden Tigern Dalís, dem Logo der Ausstellung, seien kunsthistorische Bettvorleger geworden.

Spies hat (in der FAZ) kühl erwidert, natürlich habe er in seiner Schau den Surrealismus musealisiert, nämlich "einen distanzierten Blick auf diese Bewegung geworfen". Dafür sei es ja auch hoch an der Zeit. Die Bewegung sei längst historisch geworden, alles Anekdotische und Biographische an ihr, alle bloßen Manifeste und Absichtserklärungen hätten sich inzwischen von selbst relativiert, "objektiviert". Die Objekte selbst träten nun hervor und zeugten von ihrer immanent ästhetischen Qualität.

Die Spies-Schau versammelt demgemäß keineswegs nur Bilder und Gegenstände, es gibt auch genug zu lesen, man kriegt sehr wohl mit, was die Surrealisten untereinander beredet und was für Parolen sie nach draußen getragen haben. Aber all diese Sprüche haben ihre Durchschlagskraft mittlerweile vollständig verloren. Sie wirken auf den Besucher nur noch antiquiert, verschlissen und bauchrednerisch, so daß man geradezu erschrickt. Oder auch lachen muß. Was damals, in den zwanziger und dreißiger Jahren, superrevolutionär und menschenfresserisch klingen mochte, nimmt sich heute aus wie Textschrott aus der untersten Werbefuzzi-Kiste, den nicht einmal mehr der begriffsstutzigste Volontär in den Mund nehmen würde.

Wie steht es dagegen mit den Objekten im engeren Sinne, mit den gemalten oder "frottierten" Bildern, den Fotos und "Readymades" und "gefundenen" Objekten ("objet trouvé")? Nun, viele können - man registriert es fast mit Erleichterung - sehr wohl ohne ideologisches Textbeiwerk bestehen, ja, einige sind nicht einmal abhängig von den Titeln, die ihnen ihre Schöpfer gaben und die an sich zur surrealistischen Gesamtkomposition dazugehören wie Farben und Formen. Sie tragen ihre Titel in sich, ihr Witz ist durch und durch visualisiert und erheitert die Seelen ganz unmittelbar, als reine Augenschöpfung.

Die Taten der Max Ernst und Joan Miró, André Mason und Salvador Dalí werden, so viel dürfte feststehen, einen Platz in der Geschichte von Ästhetik und Kunst behaupten. Und dennoch beschleicht einen ein Unbehagen, je länger man in der Ausstellung verweilt. Man lernt allmählich, das Wagnis zu ermessen, das Spies eingegangen ist, indem er so viele surrealistische Hauptwerke schlicht und einfach nebeneinanderhängte und nebeneinanderstellte, sie nicht eigens "inszenierte", sondern sie gleichsam nackt zeigt und einer genuin ästhetischen Besichtigung aussetzt. Die Bewertungskriterien werden dadurch ungeheuer verschärft, es findet eine gnadenlose Prüfung statt, und so manches, von dem man es gar nicht erwartet hätte, wird zu leicht befunden.

Man erkennt das Ideologische und Inszenierte in den Sachen selbst, und man erkennt, daß es durchweg auf Kosten der eigentlichen ästhetischen Qualität geht, sehr oft sogar zusätzlich auf Kosten der handwerklichen Qualität. Begeisterung ersetzt Sorgfalt, der blinde Schuß in die Menge, von dem André Breton so schwärmte, die Komplexität der zur Hervorbringung von Kunst notwendigen Zustände und Handlungen.

Ein Großteil der surrealistischen Werke enthüllt sich als "arte povera", als Minimalkunst avant la lettre. Man zeigt einen "Fund" vor, eine Idee oder einen Gegenstand oder eine Aggression, und läßt es damit genug sein. Man hat es immer sehr eilig und gerät dadurch gegenüber früheren Epochen der Kunstgeschichte sichtlich ins Hintertreffen. Barockfreunde etwa, die immer mal wieder die Rubenssäle der Münchner Pinakothek frequentieren mögen, könnten sich beim Begehen der Spies-Schau unwillkürlich fragen: "Gibt es denn hier überhaupt etwas, das es nicht auch und viel besser, nämlich in reichsten Zusammenhängen, schon bei Rubens und seinen Zeitgenossen gegeben hat?"

Hier wie dort das Spiel mit Proportionen und Disproportionen, mythologische, aus den Tiefen des Traums und des Unterbewußtseins aufsteigende Botschaften, Manierismen, Drohungen, zeichnerisch-malerische Inventionen. Doch wofür die Surrealisten ganze Bildstrecken (und zusätzlich noch brüllende Textmanifeste) brauchen, das passiert auf einem einzigen Rubensbild alles gleichzeitig und ganz selbstverständlich und - nicht zu vergessen - in vollendeter handwerklicher Meisterschaft.

Und Rubens macht aus alledem sogar noch ein Geheimnis, kleidet es in schwellende Natur und Landschaft, so daß auch der auf genaue Abbildung und simple Augenfreude Versessene genug von ihm hat, regelrecht in den Bildern versinken kann. Jedes einzelne dieser alten Werke ist ein wahres Festmahl für Hermeneutiker, für Ausleger jeglicher Wissensschicht und Anspruchsstufe. Wo ist bei den Surrealisten denn da der ästhetische "Fortschritt"?

Der "Fortschritt" besteht darin, daß sie alles selber sagen wollen und für den Hermeneuten nichts übriglassen. Eine Kunst für Klippschüler im Grunde, exekutiert von Steißpaukern, die ihre paar Ideen über Kunst und Revolte, Mordlust und das Ende aller Dinge den Leuten mit dem Rohrstock einbläuen. Der angeblich entgrenzende Effekt des Surrealismus ("écriture automatique") war Illusion. Seine Schlußbotschaft, da haben die Spies-Kritiker nur allzu recht, lautete: Abräumen! Und die Erben dieser "klassischen Moderne", die Aktionskünstler und Installateure, Gestikulierer und Virtualisten von heute, haben ja dann auch tatsächlich gründlich abgeräumt.

Sehr auffällig in Düsseldorf, daß sich die meisten Besucher eindeutig nicht vor einem Gemälde ballen, und sei es noch so berühmt, sondern vor einer nachgestellten Wand aus dem Arbeitszimmer André Bretons, vor der er, außer einigen "Readymades" aus Surrealistenhand, in erster Linie Sammelstücke aus der Kunst der sogenannten Naturvölker aufgebaut hatte, Masken, Speere, Schilde, alles mit höchstem Geschmack ausgesucht und arrangiert. Ach, die Faszination dieser Wand ist nur allzu verständlich!

Sie allein bedient ausreichend, ja üppig, jenes spontane hermeneutische Bedürfnis, jenes Auslegen- und exklusiv für sich Entdeckenwollen, das in jedem Kunstfreund und Ausstellungsbesucher lebendig ist. Allenfalls noch ein weiteres, in Paris wie Düsseldorf gezeigtes "objet trouvé" reicht an die Breton-Wand heran: ein meisterhaft ausgestopfter Ameisenbär, der ohne jeden Kommentar auf einer Konsole steht und bei den Besuchern ebenfalls größte Aufmerksamkeit findet.

Salvador Dali, "Traum, verursacht durch den Flug einer Biene um einen Granatapfel, eine Sekunde vor dem Erwachen" (1944)

André Breton, "Wand aus dem Atelier" (1922-1966)

Die Ausstellung "Surrealismus 1919-1944. Dalí, Max Ernst, Magritte, Miró, Picasso..." wird noch bis zum 24. November in der Düsseldorfer Kunstsammlung, Grabbeplatz 5, gezeigt. Info: 02 11 / 83 81-0


 
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