© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    44/02 25. Oktober 2002

 
Verbraucht in die neue Saison
Koalition: Im neuen rot-grünen Kabinett bekommen die Minister der alten Legislaturperiode Gesellschaft von reaktivierten Polit-Rentnern
Peter Freitag

Die Zusammenstellung und das zeitweilig etwas planlos erschei- nende Zustandekommen des zweiten Kabinetts von Bundeskanzler Schröder ließen bei manchem Beobachter den Schluß zu, der Hausherr am Spreebogen habe gar nicht mit einem Wahlsieg und der nachfolgenden Neuauflage einer rot-grünen Koalition gerechnet.

Denn während die Grünen mit personalpolitischer Kontinuität aufwarten, sorgte der Kanzler insbesondere mit den Berufungen für die Ressorts Verkehr, Familie und Wirtschaft sowie mit der Kompetenzerweiterung für die Gesundheitsministerin Ursula Schmidt für einige Überraschungen. Neben dem Regierungschef selbst gehören dem neuen Kabinett nur fünf weitere Minister an, die ihren Posten seit dem Regierungswechsel 1998 unverändert innehaben: Außenminister und Vizekanzler Joschka Fischer, Innenminister Otto Schily, Umweltminister Jürgen Trittin sowie die beiden SPD-Damen Edelgard Bulmahn (Bildung) und Heidemarie Wieczorek-Zeul (Entwicklungshilfe).

Die Zugehörigkeit Trittins zum neuen Kabinett stand außer Zweifel. Der Niedersachse zieht zwar im Gegensatz zu Fischer eher Antipathien an, konnte sich aber trotz schleppendem Atomausstieg und vorerst gescheitertem Dosenpfand als Sachwalter des urgrünen Ressorts verkaufen. Die "Rote Heidi" Wieczorek-Zeul ist als ausgewiesene Parteilinke wie geschaffen für das "weichste" aller Sachgebiete, so daß auch ihr Sessel sicher war. Edelgard Bulmahn war neben der abgelösten Familienministerin Christine Bergmann sicherlich das unscheinbarste Kabinettsmitglied. Doch auch sie wird als Parteilinke für Schröders Machtarithmetik benötigt, außerdem ist sie Vorsitzende von Schröders Heimat-Bezirksverband Hannover. Daß ihre das Dienstrecht an den Hochschulen betreffenden Reformen unter den entsprechenden Fachleuten auf Skepsis bis Ablehnung stießen, schadete ihr kaum. Und immerhin kann sie als Erfolg auf eine erhöhte Anzahl von BaföG-Empfängern verweisen.

Für unverzichtbar wurde auch Hans Eichel als Finanzminister in der Neuauflage der rot-grünen Koalition gehalten. Seit Schröder den damals frisch abgewählten ehemaligen hessischen Ministerpräsidenten nach Lafontaines Fahnenflucht ins Amt holte, erwarb er sich den Ruf des Sanierers leerer Staatshaushalte. Seinen bei den Kollegen auf Widerwillen stoßenden Sparzwang konnte er in den Verhandlungen nicht durchsetzen, daher muß Eichel in seinem Ressort die ersten Wahlversprechungen brechen: So werden entgegen vorheriger Beteuerungen doch Steuern erhöht bzw. Vergünstigungen gestrichen, nachdem schon wegen der Hochwasserkatastrophe die Entlastungen um ein Jahr nach hinten verschoben worden sind. Zweitens wird die Neuverschuldung die zuvor festgelegte Linie um 2,5 Milliarden Euro überschreiten, was eine Nichteinhaltung des Drei-Prozent-Kriteriums und aller Wahrscheinlichkeit einen "Blauen Brief" der EU-Kommission nach sich zieht (samt möglicher milliardenschwerer Strafe).

Mit Peter Struck zieht auch der jüngste Eingewechselte in das neue Kabinett, nachdem er in diesem Sommer dem affärengesättigten Scharping an die Spitze von Hardthöhe und Bendlerblock folgte. Bis dahin hatte er sich als treuer Helfer Schröders bewährt, indem er als Vorsitzender die SPD-Fraktion im Zaum und auf Regierungskurs hielt. Künftig wird Struck an mehreren Fronten präsent sein müssen: Der Finanzminister wird eine dringend benötigte Etaterhöhung verhindern wollen, die Grünen wollen die Wehrpflicht mittelfristig "überprüfen", das heißt langfristig abschaffen, und bereits zu Beginn der Koalitionsgespräche äußerten führende Militärs ungewohnt deutlich, daß die vielfältigen Beanspruchungen der Bundeswehr unter den gegebenen materiellen Umständen nicht mehr aufrechtzuerhalten seien.

Auch Renate Künast bekam ihr Ministeramt, ohne daß sie im Bereich der Agrarpolitik als kompetent galt. Doch mit dem eifrigen Mundwerk erwarb sie sich den Ruf als Hüterin des Verbraucherschutzes und wurde so der typischen grünen Wählerschicht sympathisch: landferne Großstädter, wie die Ministerin. Daß bereits kurz nach ihrer Amtsübernahme der gesamte wissenschaftliche Beirat ihres Ministeriums (der keineswegs als der Lobby des Bauernverbandes zugeneigt galt) aus Protest zurücktrat, weil Künast seine Unabhängigkeit beschnitt, fiel nicht weiter ins Gewicht.

Mit Überraschung wurde dagegen die Übernahme, ja sogar Kompetenzerweiterung von Ursula Schmidt aufgenommen. Wie Künast erwarb sie ihr Ministeramt in der BSE-Krise im Januar 2001, als Nachfolgerin der glücklosen Grünen Andrea Fischer. Die gelernte Sonderpädagogin aus Aachen gehört seit 1990 dem Bundestag an und war zunächst seit 1998 stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende mit den Schwerpunkten Arbeit, Soziales, Frauen, Familie und Senioren. In dieser Funktion prägte die ledige Mutter den berühmten Satz "Familie ist da, wo alle aus einem Kühlschrank essen". Ansonsten bestand ihre Aufgabe darin, die Reformpläne des Sozialministers Walter Riester den Wünschen der sozialdemokratischen Besitzstandswahrer anzugleichen. In ihren gut zwanzig Monaten als Ministerin setzte sie weitgehend im Alleingang das Limit im Arzneimittelbudget außer Kraft, wodurch die Aufwendungen der Krankenkassen seit ihrem Amtsantritt um schätzungsweise um 15 Prozent stiegen. Als Folge drohen erhöhte Krankenkassenbeiträge. Nun also wird die rheinische Frohnatur zur "Superministerin" erhoben, die zur Gesundheit noch den Bereich Soziales erhält und somit über den größten Etat der Regierung, nämlich 320 Milliarden Euro, verfügen wird.

Das zweite Maxiministerium wird ebenfalls mit einem Nordrhein-Westfalen besetzt: Wolfgang Clement, bis dato Ministerpräsident, übernimmt als Schröders Trumpf das zusammengefügte Ressort Wirtschaft und Arbeit (ohne Zuständigkeit für Rente, die an Ulla Schmidt ging). Damit löst er die Minister Riester und Müller ab.

Von Clement erwartet Schröder die Umsetzung der Hartz-Reform, die auf einigen Widerstand beim Gewerkschaftsflügel stoßen wird. Clement gilt wie Schröder als Vertreter der Neuen Mitte, der darüberhinaus eine von ihm selbst wenig geliebte Koalition mit den Grünen meisterte. Hinter sich hat er den einflußstärksten Landesverband Nordrhein-Westfalen.

Auch ein weiteres Neumitglied in Schröders Kabinett ist ein affärengeplagter alter Hase: Manfred Stolpe, der erst kürzlich zwecks Generationenwechsel seinen Posten als Landeschef von Brandenburg räumte, wurde reaktiviert als Minister für Bauen, Verkehr und Aufbau Ost. Nachdem der Leipziger Oberbürgermeister und SPD-Hoffnungsträger im Osten, Wolfgang Tiefensee, Schröder einen Korb gegeben hatte, wurde der Altenteiler Stolpe nach Berlin geholt. Daraufhin regte sich Protest unter ehemaligen DDR-Bürgerrechtlern wie Bärbel Bohley und Joachim Gauck, sowie vom derzeitigen Staatssekretär im Verkehrsministerium, Stephan Hilsberg, die an Stolpes Verstrickung in die Staatssicherheit der DDR erinnern. An Stolpes undurchsichtiger Vergangenheitsbewältigung war 1994 die brandenburgische Ampelkoalition zerbrochen, bereits 1992 schied seinetwegen Marianne Birthler, heutige Stasi-Beauftragte der Regierung, aus dem Kabinett.

Nachdem sie bereits als Kandidatin für das Bundespräsidentenamt gehandelt worden war, überraschte Schröder durch die Berufung von Renate Schmidt ins Kabinett mit einer weiteren Reaktivierung. Die frühere bayerische SPD-Vorsitzende hatte sich 2000 als Konsequenz einer herben Niederlage gegen Edmund Stoiber von ihrem Posten sowie aus der aktiven Politik zurückgezogen. Als Präsidentin des Deutschen Familienverbandes dürfte ihr das entsprechende Ressort nicht unvertraut sein.

Interessant könnten die Reibungspunkte zwischen den familienpolitischen Vorstellungen des Koalitionsvertrages und denen von Renate Schmidt werden.

Denn während im Vertragswerk sehr stark die staatliche Kinderbetreuung propagiert und finanziell gefördert wird, setzte sich die dreifache Mutter und zweifache Großmutter bisher öffentlich stärker für innerfamiliäre und private Kinderbetreuung ein.

Mit reichlich Vorschußlorbeeren wird die zukünftige Justizministerin Brigitte Zypries (SPD) bedacht, die bisher als beamtete Staatssekretärin im Innenministerium tätig war. Meriten erwarb sie sich in der Stabsstelle "Moderne Verwaltung", sowie als Koordinatorin des Hilfseinsatzes während der Hochwasserkatastrophe dieses Jahres.

Rot-grüne Koalitionäre Schröder, Wieczorek-Zeul, Roth, Fischer (v.l.n.r.): Es wird weitergewurschtelt


 
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