© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/02 18. Oktober 2002


Deutsch bleibt unverzichtbar
von Csaba Földes

Wo es auch immer um die Stellung der deutschen Sprache geht, kann ein Hinweis auf Ostmittel-, Ost- und Südosteuropa, einschließlich der GUS kaum fehlen. Zumeist wird dieses Areal (im weiteren bediene ich mich des im deutschen Sprachraum zunehmend verwendeten Kürzels MOE) fast als Synonym für eine Hochburg des Deutschen apostrophiert. Deutsch als MOE-Sprache? - kann man sich fragen. Die Daten, die Wahrnehmungen und die Einstellungen sind allerdings nicht ganz einheitlich und nicht restlos eindeutig.

Die Situation etwa der Hochschulgermanistik in der östlichen Hälfte Europas wird in der Deutschen Universitäts-Zeitung wie folgt beschrieben: "Mangelnde Strukturierung des Fachbereiches, fehlende Differenzierung von Abschlüssen, Frontalunterricht und die Didaktik des kritiklosen Auswendiglernens - nach nun fast sechs Jahren hat sich an den ost- und mitteleuropäischen Hochschulen nichts Grundlegendes geändert. Denn: Die Wandlungsfähigkeit in diesen Ländern ist keine Frage des Systems mehr, sie ist eine Frage der Bequemlichkeit."

Mit dem Wegfall des "Eisernen Vorhangs" hat sich in den MOE-Staaten der sprachenpolitische Bezugsrahmen fundamental verändert, der politische Umbruch 1989/1990 hat den Fremdsprachensektor vor grundlegend neue Aufgaben gestellt: Nach der Aufhebung der - zumindest offiziellen - Vorrangstellung des "Zwangsrussischen" wandte man sich prompt und radikal von dieser Sprache ab, während ein Ansturm auf Angebote in den westlichen Sprachen, vor allem in Deutsch und in Englisch einsetzte. Das gesamte Problemfeld des Fremdsprachenunterrichts durchlief sowohl in organisatorischer als auch in inhaltlicher Hinsicht einen ultimativen Umgestaltungsprozeß. Ein Teil der nun überflüssig gewordenen Russischlehrer wurde MOE-weit meist zu Deutsch- und Englischlehrern umgeschult. Es hieß, auf die bereits vorhandenen Unterrichtskompetenzen und -erfahrungen aufbauen und vor allem praktische Kenntnisse in der neuen Sprache, aber natürlich auch sprachbezogenes philologisches Grundlagenwissen zu vermitteln.

Ein weiterer Impuls für die deutsche Sprache, die Germanistik und die Deutschlehrerausbildung ging von den deutschen Minderheiten vor Ort aus, die sich nun wieder frei artikulieren durften. Zudem kam sämtlichen "westlichen" Sprachen ein neuer motivationaler Hintergrund dadurch zugute, daß die Lernenden aufgrund der Reisefreiheit, der neuen Kontaktmöglichkeiten usw. - insbesondere anfänglich - eine enorme Lernbereitschaft zeigten. Für diesen gewaltigen "Boom" sei an dieser Stelle exemplarisch nur eine einzige, aber sehr kennzeichnende, numerische Gegenüberstellung vorgenommen: Während sich am Goethe-Institut in Budapest die Zahl der Unterrichtsstunden in Deutsch als Fremdsprache im Jahre 1988 auf 224 belief, stieg dieses Volumen innerhalb von acht Jahren bis 1996 in beeindruckender Weise auf mehr als das Zwanzigfache an.

Für die Erlernung, Verwendung und Pflege der deutschen Sprache gibt es heute viele Gründe, von denen hier für den Fall Ungarns einige hervorgehoben werden sollen: Deutschland ist der mit Abstand wichtigste Handelspartner Ungarns. In Domänen wie dem Tourismus fungiert Deutsch nicht nur als eine, sondern beinahe sogar als die Fremdsprache. Die deutschsprachigen Medien erfreuen sich in Ungarn einer herausragenden Popularität. Außerdem ist die ungarische Kultur seit einem Jahrtausend mit der deutschen aufs engste verflochten. Ungarische - und wohl auch ostmitteleuropäische - Geistesgeschichte ist ohne den Anteil der deutschen Sprache fast unvorstellbar.

Weltweit lernen in rund 100 Ländern 20 Millionen Menschen Deutsch, davon 13,5 bis 14 Millionen im MOE-Raum. Deutsch befindet sich in mancher Hinsicht und in einigen Staaten wie in Ungarn, Tschechien und in der Slowakei auf Platz eins, sogar vor Englisch. Beim näheren Hinsehen fällt aber auf, daß Deutsch zwar im gesamten Analysezeitraum die führende Stellung innehat, aber seine Entwicklungsdynamik nicht so ungebrochen ist wie die des Englischen. Ob sich daraus entsprechende Zukunftsprognosen in Richtung Englisch ableiten lassen, ist noch nicht sicher, aber sehr wahrscheinlich.

Dazu paßt, daß je kleiner der Ort ist, um so eher Deutsch gelernt wird und umgekehrt, je größer die Stadt, desto stärker ist die Position des Englischen. Auch die Schulstufe und der Schultyp scheinen mit der Sprachenpräferenz zu korrelieren. So führt im achtklassigen Grundschulbereich das Deutsche eindeutig, in den Gymnasien wird aber schon etwas mehr Englisch gewählt, während der Hochschulsektor durch eine massive Dominanz des Englischen gekennzeichnet ist. Man kann ferner mit Blick auf die soziale Schichtenzugehörigkeit aufschlußreiche Beobachtungen machen: Kinder aus einfacheren und weniger bildungsorientierten Familien lernen - statistisch gesehen - eher Deutsch, während das "Bildungsbürgertum" seine Kinder vorrangig für den Englischunterricht anmeldet.

Aus den Befunden meiner Recherchen ist zu schließen, daß die Motivation für das Erlernen der deutschen Sprache heute anders ist, als sie früher war und zudem anders gelagert ist, als sie im Falle der englischen Sprache zu sein scheint. Deutsch wird immer weniger als Begegnung und Auseinandersetzung mit einem geistigen und kulturellen Phänomen wahrgenommen und gelernt, vielmehr erblickt man in dieser Sprache ein technisches Kommunikationsinstrument, dessen Beherrschung einem zu beruflichen und wirtschaftlichen Vorteilen verhelfen kann. Somit besitzt Deutsch in weiten Teilen des MOE-Raums einen anderen Stellenwert und ein anderes Prestige als - mehrheitlich - im Westen Europas. Während Deutsch zum Beispiel in Belgien und Frankreich als anspruchsvolles und schwieriges Selektionsfach gilt, dem sich Kinder vornehmlich bildungsorientierter Familien nicht zuletzt aus kulturellen Motiven zuwenden, büßt Deutsch im östlichen Europa seine Funktion als Bildungs- und Kultursprache zunehmend ein und wird eher aus pragmatisch-rationellen Gründen als praktische Verständigungssprache für Beruf, persönliche Mobilität und Alltag in der Hoffnung auf bessere Lebens- und Verdienstchancen gelernt.

Dennoch dürfte eine zusätzliche Besonderheit hinsichtlich der deutschen Sprache - zumindest in Ungarn - in der emotionalen Dimension ihrer Einschätzung durch die Lernenden liegen. Man hat ungarische Jugendliche nach ihren Motiven für das Erlernen der einzelnen Fremdsprachen befragt. Allein für Deutsch konnten solche emotionalen Motive wie Sympathie für die Deutschen und Österreicher ermittelt werden, zum Beispiel in der Form "sie sind unsere Freunde und Verbündete". Mit diesem Befund korrespondiert der positive affektive Inhalt in der Feststellung des früheren tschechischen Botschafters Grusa unter Verweis auf die seit langem fruchtbare deutsch-ostmitteleuropäische Universitäts- und Forschungskooperation: "Für uns alle war in der Zeit des Kommunismus Deutsch die Sprache der Freiheit." Auch halten viel mehr ungarische Lernende Deutsch für leichter als zum Beispiel Englisch. Dieser Sympathievorschuß kann für einen effizienteren Deutschunterricht und dadurch auch für die weitere Verbreitung und Förderung der deutschen Sprache besondere Ressourcen bereitstellen, auf die man künftig dezidierter aufbauen könnte und sollte.

Als Fazit läßt sich festhalten, daß sich Deutsch in Ostmittel- und Osteuropa seit der Wende - zumindest in numerischer Hinsicht - einer bemerkenswerten Konjunktur erfreut. Gleichwohl darf nicht übersehen werden, daß Englisch höhere Zuwachsraten hat und sich als "Allerweltssprache" - vom mitteleuropäischen Tschechien bis ins ehemals sowjetische Mittelasien - immer rascher und nachhaltiger etabliert.

Alles in allem kann man sich also des Eindrucks kaum erwehren, daß Deutsch ostmittel- und osteuropaweit quantitativ zwar nach wie vor eine beachtliche Stellung einnimmt, die Qualität betreffend aber weniger gut abschneidet als die derzeitige "Universalsprache" Englisch. Es ist in den meisten MOE-Staaten eine kennzeichnende Besonderheit des Deutschen, daß es nicht - wie weltweit meist typisch - mit dem Französischen (oder anderen Sprachen) als zweite oder dritte Fremdsprache konkurriert, sondern auch als erste Fremdsprache eine Rolle spielt und von Fall zu Fall sogar vor dem Englischen rangiert. Allerdings ist die relative Wachstumsdynamik des Englischen in MOE in der Regel wesentlich größer und nimmt kontinuierlich und unübersehbar zu. In den ersten Jahren nach der Wende haben viele Linguisten, Sprachenpolitiker und Didaktiker das Potential des Deutschen in MOE aufgrund der tief verwurzelten Traditionen dieser Sprache und der plötzlich allgegenwärtigen, wieder erwachten Nachfrage aus verständlichen Gründen etwas überbewertet und den radikalen - auch von den Deutschsprachigen bewußt oder unbewußt mit geförderten - internationalen Aufwind des Englischen unterschätzt.

Für die Förderung der deutschen Sprache in MOE könnten sich folgende Aufgaben und Möglichkeiten ergeben:

(1) Ausführliche und zielgerichtete Bedarfs- und Bedürfnisanalysen sollten auf dem Sprachensektor durchgeführt werden, um zu einer genaueren Bestandsaufnahme und zu einer adäquaten Bestimmung des Handlungsbedarfs gelangen zu können. In diesem Lichte wären unter Umständen bestimmte funktionale Bereiche der deutschen Sprache gezielter zu fördern und entsprechende spezifische Angebote zu entwickeln, wie etwa Wirtschaftsdeutsch, Fachsprachen etc.

(2) Die strategische Planung zur Förderung des Deutschen in Unterricht, Pflege und Verwendung muß immer sprachenpolitisch begründet erfolgen.

(3) Daher erschiene eine Integration der Sprachenpolitik (besonders der Schulsprachenpolitik) in die Lehrerausbildung und alle philologischen Studiengänge sinnvoll. Andernfalls werden die Absolvent(inn)en ihrer Aufgabe nicht gerecht, sich für die Sprachen und für deren vernünftiges und zeitgemäßes Lehren und Lernen einzusetzen.

(4) Es ist zu berücksichtigen, daß es bei den betrachteten Sprachen eine globale und eine regional bzw. von Ort zu Ort variierende Funktionsteilung gibt. So wären jeweils der Stellenwert, die Funktionen und das Potential des Deutschen im Kontext der anderen Sprachen sorgfältig zu eruieren. Wichtig ist, daß Deutsch nicht gegen Englisch (und/oder andere vor Ort relevante größere Sprachen), sondern im Zusammenspiel mit ihm (bzw. ihnen) gefördert wird, und zwar unter konsequenter Berücksichtigung der interkulturellen Mehrsprachigkeit, die für Europa zu einem prägenden Leitbild werden sollte. Es handelt sich also darum, für ein adäquates Deutschangebot - wie auch für andere Sprachen - zunächst die Domänen und Funktionen richtig zu erkennen, in denen Deutsch aufgrund seiner Traditionen, des derzeitigen Bedarfs und der Entwicklungsperspektiven eine sinnvolle Rolle spielen kann.

(5) Trotz mannigfacher quantitativer wie qualitativer Verluste an Sprecherzahl und Verwendungsbereichen kann Deutsch in der MOE-Region einen erheblichen Stellenwert und ein beachtliches Funktionspotential aufweisen - auch wenn so manch ein Deutschmuttersprachler seiner Sprache wenig kommunikativen Wert zutraut und sich im Umgang mit Ausländern allzu gern des Englischen oder anderer Sprachen bedient.

Deutsch als Fremdsprache befindet sich von jeher im Wirkungsraum diverser sprachen- und bildungspolitischer Entscheidungen wie auch gesellschaftlicher Interaktionsfelder. Dementsprechend verläuft seine Entwicklungslinie bei weitem nicht gerade. Heute beeinflussen zahlreiche politisch-administrative und soziale Faktoren (wie etwa die neuen Möglichkeiten zur europa- bzw. weltweiten Mobilität, das erhöhte Prestige des Sprachenlernens und der fremdsprachlichen Kompetenz usw.) den Fremdsprachensektor recht positiv, während andererseits bestimmte Maßnahmen dem Anfang der Neunziger Jahre eingesetzten Aufwärtstrend entgegenwirken. Zu letzterem kann etwa der Beschluß des ungarischen Unterrichtsministeriums genannt werden, wonach seit 2001 an den universitären Zulassungsprüfungen Pluspunkte nur noch für eine Sprachprüfung vergeben werden dürfen. Das wird die Mittelschüler zum Lernen einer zweiten Fremdsprache wohl kaum motivieren. Aus der Sicht der deutschen Sprache wird sich das besonders nachteilig auswirken, denn in den Gymnasien, die als die primäre Zielgruppe dieser Verordnung gilt, steht Deutsch herkömmlich auf Platz zwei hinter Englisch. Der bisherige Beweggrund vieler Schüler, neben Englisch auch intensiver Deutsch zu lernen, weil die zwei Sprachprüfungen sichere und im Voraus kalkulierbare Pluspunkte bei der Aufnahmeprüfung an der Universität bedeuten, entfällt.

Für die Zukunft bleibt zu hoffen, daß der Wert von anwendungsfähigen Fremdsprachenkenntnissen als Schlüsselqualifikation - und in diesem Rahmen auch Kenntnisse im Deutschen als wichtige europäische Kultursprache - von allen Akteuren der Sprachenpolitik anerkannt wird und künftig als ein Dreh- und Angelpunkt des sprachenpolitischen Handlungsfeldes fungiert.

 

Prof. Dr. Csaba Földes ist Professor für Germanistische Linguistik an der Universität Veszprém (Ungarn) und Vizepräsident des Mitteleuropäischen Germanistenverbandes (MGV) sowie Mitglied im Internationalen Wissenschaftlichen Rat des Instituts für Deutsche Sprache (IDS). Der Aufsatz ist eine gekürzte Fassung des Beitrags aus der Zeitschrift Wirkendes Wort.


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