© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/02 18. Oktober 2002

 
Kein Sonderrecht eines einzelnen Staates
Asien: Indien nutzt Bush-Doktrin im Kaschmir-Konflikt als Argument gegen Pakistan
Michael Waldherr

Die Büchse der Pandora ist geöffnet. Und George W. Bush trägt dafür die Verantwortung. In der als "Bush-Doktrin" bekannten "National Security Strategy of the United States" wird ein bis dato völkerrechtlich unbekanntes Recht auf militärische Präventivschläge zur vorbeugenden Selbstverteidigung formuliert.

Die Argumente des US-Präsidenten für einen Präventivschlag gegen den Irak werden auch in anderen Weltregionen als Rechtfertigung für "militärische Problemlösungen" angeführt. Frankreichs Präsident Jacques Chirac hatte kürzlich gewarnt: "Es kann gefährlich werden, wenn etwa die Atommacht Indien dasselbe Recht auf präventive Verteidigung gegenüber der Atommacht Pakistan geltend macht." Und schon erklärt der amtierende Finanzminister und Ex-Außenminister Indiens, Jaswant Singh, in Washington: "Die Doktrin des Präventivschlages kann nicht ein Sonderrecht eines einzelnen Staates sein. Präventivaktionen sind das Recht jedes Staates, um einen Angriff auf die eigene Souveränität zu verhindern."

Die Aussage des indischen Regierungsmitglieds spiegelt den anschwellenden Zorn über den grenzüberschreitenden Terrorismus von seiten des Erzfeindes Pakistan. Vier Jahre nach dem Versprechen des pakistanischen Präsidenten General Pervez Musharraf, keine kaschmirischen Befreiungskämpfer mehr über die Grenze zu lassen, registriert Indien bislang machtlos eine stetige Zunahme von Infiltrationen und Grenzverletzungen. Musharraf, der diese Vorwürfe zunächst bestritt, räumte schließlich ein, daß eine kleine Zahl illegaler Grenzübertritte möglich sei. Doch er konterte geschickt: "Man kann nicht erwarten, daß die pakistanischen Truppen etwas gegen die Extremisten ausrichten können, wenn nicht einmal die indische Millionen-Armee dazu in der Lage ist." Militärexperten bezweifeln freilich, daß die Aktionen der Kaschmir-Rebellen ohne logistische Hilfe der pakistanischen Armee möglich wären.

Die Infiltration des indischen Teils von Kaschmir hat seit dem Beginn der dortigen Regionalwahlen stark zugenommen. Seit Beginn des Wahlkampfs Ende August sind in der Region 350 Menschen umgebracht worden. Das Attentat auf den Hindu-Tempel in Gujarat beweist überdies, daß der islamistische Untergrund auch Ziele im indischen Kernland angreifen kann. Die Schuld wird in Indien nicht nur Pakistan zugeschoben, auch über die USA ist man enttäuscht. Es sei Washington nicht gelungen, dem US-Verbündeten Musharraf Zügel anzulegen, so der durchgängige Tenor in der indischen Presse. Indien hatte nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 gehofft, daß die scharfe Kehrtwende des Westens in Sachen Terror sich auch gegen Pakistans "Stellvertreterkrieg" in Kaschmir richten würde. Doch der geschickte Fuchs Musharraf trat der Anti-Terror-Koalition bei, wurde so zu einem unverzichtbaren Verbündeten der USA im Kampf gegen al-Qaida und die Taliban. Die Lösung des Kaschmir-Konflikts hat so für US-amerikanische Realpolitik nur untergeordnete Bedeutung. In Neu Dehli weiß man das und Indiens Premierminister Atal Bihari Vajpayee erklärte frank und frei: "Letztlich kann sich Indien auf niemanden verlassen und muß seinen Kampf gegen den Terrorismus alleine führen."

Mit jedem weiteren Opfer wächst in Indien die Bereitschaft zu Militärschlägen gegen Pakistan. Zwar scheut man das Wort Krieg wegen der Gefahr einer nuklearen Eskalation. Doch indische Journalisten schreiben offen über die Möglichkeit von punktuellen Angriffen und Kommandoaktionen gegen Pakistan, bei denen Indien jeden Anschlag vierfach zurückzahlen soll.

Das paßt den US-Amerikanern keineswegs, brauchen sie doch Musharraf nach wie vor. Letzterer warnt den indischen Nachbarn schon prophylaktisch vor "militärischen Abenteuern". In Washington schrillen derweil die Alarmglocken, weil eine Eskalation des Kaschmirkonfliktes überhaupt nicht ins strategische Konzept des Pentagon paßt. Dort weist man nachdrücklich darauf hin, daß die Bush-Doktrin mit dem Recht auf Präventivschläge ausschließlich den USA zustehe, weil sie die einzige Weltmacht sind.


 
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