© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/02 18. Oktober 2002

 
"Ethnische Säuberung"
Dokumentation: Auszüge aus dem Gutachten des Völkerrechtlers Dieter Blumenwitz über die Benes-Dekrete
(JF)

Die Sudetendeutsche Landsmannschaft hat mich um eine Stellungnahme zu Rechtsfragen, die mit dem geplanten Beitritt der Tschechischen Republik zur Europäischen Union in Zusammenhang stehen, gebeten. Insbesondere soll die folgende Frage beantwortet werden: Inwieweit entfalten die Präsidialdekrete und das Gesetz Nr. 115 vom 8. Mai 1946 "über die Rechtmäßigkeit von Handlungen, die mit dem Kampf um die Wiedergewinnung der Freiheit der Tschechen und Slowaken zusammenhängen" (Straffreiheitsgesetz) noch heute eine diskriminierende Wirkung, die dem Völkerrecht und dem EU-Recht entgegensteht?

Im Londoner Exil und in der unmittelbaren Nachkriegszeit übte der Präsident der Tschechoslowakischen Exil-Regierung, Edvard Benes, - formell gebunden an die alte tschechoslowakische Verfassung von 1920 - das Gesetzgebungsrecht in der Form von Gesetzes- und Verfassungsdekreten aus, die am 28. März 1946 von der Provisorischen Nationalversammlung genehmigt wurden. Von den insgesamt 142 Dekreten werden 44 der Londoner Periode, 98 der mit der Wiedergewinnung des tschechoslowakischen Territoriums einsetzenden "unmittelbaren Nachkriegszeit" zugerechnet. Unmittelbar im Kontext mit den Dekreten und ihrer Durchführung in der Nachkriegszeit steht das Gesetz Nr. 115 vom 8. Mai 1946, das an sich rechtswidrige und strafbare Handlungen, die zwischen dem 30. September 1938 und dem 28. Oktober 1945 mit dem Ziel der Befreiung begangen wurden, als "Vergeltung für die Taten der Okkupanten" rechtfertigt. Nach tschechischer Rechtsauffassung ist demgemäß auch die Vertreibung von ca. 3,2 Millionen Deutschen und 600.000 Magyaren aus ihren angestammten Siedlungsgebieten - einschließlich der hierbei verübten Exzesse - gesetzlich gerechtfertigt.

Entgegen der Darlegungen des tschechischen Außenministeriums befinden sich in der vom Justizministerium der Tschechischen Republik 1992 herausgegebenen Sammlung der geltenden Gesetze weiterhin Dekrete aus der unmittelbaren Nachkriegszeit. Als noch geltendes Recht werden all die Regelungen erfaßt, die den vermögensrechtlichen und staatsangehörigkeitsrechtlichen Status der Entrechteten betreffen, zum Beispiel: Dekret Nr. 5 vom 19. Mai 1945 über die Ungültigkeit einiger vermögensrechtlicher Rechtsgeschäfte aus der Zeit der Unfreiheit und über die nationale Verwaltung der Vermögenswerte der Deutschen, der Magyaren, der Verräter und Kollaborateure und einiger Organisationen und Anstalten; Dekret Nr. 12 vom 21. Juni 1945 über die Konfiskation und beschleunigte Aufteilung des landwirtschaftlichen Vermögens der Deutschen, Magyaren, wie auch der Verräter und Feinde des tschechischen und des slowakischen Volkes; Dekret Nr. 100 vom 24. Okt. 1945 über die Nationalisierung der Bergwerke und einiger Industriebetriebe; Dekret Nr. 108 vom 25. Okt. 1945 über die Konfiskation des feindlichen Vermögens und die Fonds der nationalen Erneuerung.

Auf staatsangehörigkeitsrechtlichem Gebiet findet sich die zentrale Ausbürgerungsvorschrift: Dekret Nr. 33 vom 2. Aug. 1945 über die Regelung der tschechoslowakischen Staatsbürgerschaft der Personen deutscher und magyarischer Nationalität.

Rechtspolitisch bedeutsam ist vor allem die uneingeschränkte Fortgeltung des Gesetzes Nr. 115 vom 8. Mai 1946 (Straffreiheitsgesetz). Es ist kein einziger Fall bekannt geworden, in dem ein Täter wegen Gewalttaten gegen Angehörige der deutschen oder magyarischen Volksgruppe zur Verantwortung gezogen worden wäre.

Die in der Tschechischen Republik förmlich fortgeltenden Präsidialdekrete werden von dem für die Erweiterung der EU zuständigen Kommissar Günter Verheugen häufig als "obsolet" bezeichnet. Obsolet bedeutet in der Rechtssprache so viel wie "überholt". Der Begriff ist aber nicht präzise: Eine Regelung kann überholt sein, weil sie durch eine neue Norm außer Kraft gesetzt wurde (lex posterior derogat legi priori); eine Regelung kann aber auch überholt sein, weil der zu regelnde Sachverhalt entfallen ist. Da die förmlich nicht aufgehobenen Dekrete von allen Staatsorganen der Tschechischen Republik weiterhin als "fester Bestandteil der tschechischen Rechtsordnung" angesehen werden, kann nicht von der impliziten Aufhebung dieser Bestimmung durch die tschechoslowakische Charta der Grundrechte und Grundfreiheiten vom 9. Januar 1991 oder durch Bestimmungen der Verfassung der neuen Tschechischen Republik ausgegangen werden.

Der Gesetzgeber hat all die Dekrete und Gesetzesbestimmungen förmlich aufgehoben (insoweit stellt sich das Problem der Obsoletheit gar nicht), die sich unmittelbar auf die Vertreibung und ihre Durchführung sowie die Neubesiedlung des entvölkerten Landes bezogen. Alle das Eigentum und den staatsangehörigkeitsrechtlichen Statuts betreffenden Dekrete gelten fort und müssen auch in der Tschechischen Republik noch angewendet werden, wenn auf sie Gesetzgebung, Verwaltung oder Rechtsprechung verweisen. Die Dekrete müssen dann "nachbefolgt" werden.

Die Tragfähigkeit der EU als einer Gemeinschaft, die sowohl auf der Aussöhnung ihrer Völker und Volksgruppen als auch auf dem Respekt vor den Menschenrechten und dem Schutz von Minderheiten gründet, wäre gefährdet, versuchte ein neuer Mitgliedstaat, die Entrechtung, kollektive Ausbürgerung und Ausweisung von Millionen Menschen beharrlich als gerechte Strafe und Grundlage des gesamteuropäischen Rechts zu rechtfertigen; Europa liefe Gefahr, im weltweiten Kampf gegen ethnische Säuberungen seine Glaubwürdigkeit zu verlieren.

Von den Vertreibungsfolgen sind heute die Vermögenskonfiskationen noch spürbar, sie sind letztlich auch leichter regelbar als der Verlust der Heimat. Die Enteignungen nach den heute in der Tschechischen Republik förmlich fortgeltenden Dekreten Nr. 5, Nr. 12, Nr. 100 und Nr. 108 können nicht als gerechte Strafe für illoyales Verhalten angesehen werden. Die Konfiskationen wurden ohne jede Prüfung individuellen Verschuldens durchgeführt. Die Dekrete zielten vielmehr auf die Lebens- und Existenzgrundlagen einer Volksgruppe und verfolgten deren Zerstörung im Siedlungsgebiet. Die Enteignung ist demgemäß Bestandteil des Genozides an der in der damaligen Tschechoslowakei siedelnden deutschen und magyarischen Volksgruppe. Gerade weil eine zwingende Völkerrechtsnorm verletzt ist, ist Wiedergutmachung geboten.

Das Europäische Parlament hat die Tschechische Regierung bereits 1999 aufgefordert, fortbestehende Gesetze und Dekrete aus den Jahren 1945 und 1946 aufzuheben, soweit sie sich auf die Vertreibung von einzelnen Volksgruppen in der ehemaligen Tschechoslowakei beziehen.

Nach der Volkszählung von 1921 setztesich Tschechoslowakei mit einer Gesamtbevölkerung von 13.613.172 aus folgenden Völkern und Volksgruppen zusammen: Tschechen 51%, Deutsche 23,4%, Slowaken 14,5%, Magyaren 5,5%, Rusinen, Ukrainer und Russen 3,4%, Juden 1,3%, Polen 0,5%, Rumänen und andere Nationalitäten 0,4%. Aufgrund der Entrechtung durch die Benes-Dekrete und deren Begleitumstände wurde die deutsche Volksgruppe vertrieben. Über drei Millionen Deutsche, ein knappes Viertel der Gesamtbevölkerung der damaligen Tschechoslowakei, mußte das Land verlassen über 200.000 fanden den Tod.

Die ethnische Säuberung erfolgte 1945/46 so gründlich, daß heute von tschechischen Stellen, angeblich mangels einer geeigneten Zielgruppe, oft kein Handlungsbedarf für den Schutz einer deutschen Minderheit gesehen wird. Die kleine, im Lande verbliebene Gruppe mit deutscher Muttersprache war entrechtet, obgleich sie den Beweis erbracht hatte, aktiv an der Befreiung der Tschechoslowakei mitgewirkt oder gegen das Nazi-Regime Widerstand geleistet zu haben. Wegen der anhaltenden existenzgefährdenden Diskriminierung und der Brandmarkung als "unzuverlässig", sahen sich viele der Vertriebenen genötigt, das Bekenntnis zur deutschen Volksgruppe aufzugeben.

Da die deutsche Bevölkerungsgruppe räumlich weit gestreut lebt, wegen des staatlichen Unterrichts größtenteils besser Tschechisch als Deutsch kann und sich bemüht, außerhalb der eigenen Wände nicht Deutsch zu sprechen, wird sie von der Mehrheitsbevölkerung nicht mehr wahrgenommen.

Im Mittelpunkt des durch das Beitrittsverfahren angesprochenen "Schutz von Minderheiten" steht deren Recht auf Identität. Gem. Art. 5 Abs. 1 des europäischen Rahmenabkommens zum Schutz nationaler Minderheiten hat sich die Tschechische Republik verpflichtet, auf Zielsetzungen und Praktiken zu verzichten, "die auf die Assimilierung von Angehörigen nationaler Minderheiten gegen deren Willen gerichtet sind", und diese Personen "vor jeder auf eine solche Assimilierung gerichteten Maßnahme" zu schützen. Art. 3 Abs. 2 dieses Abkommens gewährt jeder Person, die einer nationalen Minderheit angehört, "das Recht, frei zu entscheiden, ob sie als solche behandelt werden möchte oder nicht"; aus dieser Entscheidung oder der Ausübung der mit dieser Entscheidung verbundenen Rechte dürfen ihr keine Nachteile erwachsen.

Die Freiheit, sich zur deutschen oder magyarischen Volksgruppe zu bekennen oder sich mit dieser zu identifizieren, wird in der Tschechischen Republik nach wie vor durch § 4 lit. a des Dekretes Nr. 5 faktisch sowie auch rechtlich eingeschränkt. Die einschlägige Bestimmung lautet: "Als staatlich unzuverlässige Personen sind anzusehen: a) Personen deutscher oder magyarischer Nationalität". Die pauschale Abqualifizierung der Angehörigen einer nationalen Minderheit als "unzuverlässig" schränkt die Möglichkeit, sich zu einer Minderheit zu bekennen, ein.

Klagen der spezifisch betroffenen Angehörigen der deutschen (magyarischen) Minderheit gegen die diskriminierenden Dekrete sind nach der genannten Rechtsprechung unzulässig, weil diese (Dekrete) ihren "Zweck bereits erfüllt" und "keinen konstitutiven Charakter" mehr haben. Mangels einer Rehabilitierung muß sich die kleine Gruppe der Deutschstämmigen in der Tschechischen Republik, in einer Rechtsordnung, die sich weiterhin zu den Benes-Dekreten bekennt, als sozial geächtet empfinden.

Während die direkte Diskriminierung der deutschen und magyarischen Minderheit durch eine Restitutionsgesetzgebung, die die Enteignung unter den Benes-Dekreten perpetuiert, die Aufmerksamkeit auch des UN-Menschenrechtsausschusses gefunden hat, sind die Folgen der mittelbaren Diskriminierung kaum bekannt.

Das Recht der Minderheitenangehörigen auf Ausbildung in ihrer Muttersprache wird in der Tschechischen Republik verfassungsmäßig gewährleistet. Es gibt aber nur für die polnische Minderheit ein ausgeprägtes öffentlich-rechtliches Minderheitenschulwesen. Dem Wunsch der deutschen Minderheit nach zweisprachig deutsch-tschechischen Schulen wurde bislang nicht entsprochen, da die potentielle Schülerzahl wegen der Streusiedlung der deutschen Bevölkerung angeblich zu gering ist.

Die Nachwirkungen der Benes-Dekrete zeigen sich auch beim Informationsrecht und beim Recht auf politische Vertretung. Die deutsche Minderheit verfügt nur über zwei muttersprachliche Wochenzeitungen, die zahlenmäßig nur wenig stärkere polnische Minderheit verfügt immerhin über sechs Privatmedien mit zum Teil kürzerer Erscheinungsperiodik. Die durch die Benes-Dekrete geschaffene repressive Lage äußert sich in der weitgehenden politischen Abstinenz der deutschen Bevölkerungsgruppe.

Das vollständige Gutachten ist über die Sudetendeutsche Landsmannschaft, Hochstraße 8, 81669 München, Tel.: 089 / 48 00 03 41 oder im Internet ( www.sudeten.de ) zu bekommen.


 
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