© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   42/02 11. Oktober 2002


Querfront gegen den Westen
von Karlheinz Weißmann

In den vergangenen Wochen flammte die Diskussion über das Verhältnis Deutschlands zum Westen und besonders zu den USA immer wieder auf. Das erklärt sich zum Teil aus gewissen Empfindlichkeiten nach dem 11. September 2001 und zum Teil aus den Erfordernissen des Wahlkampfs, denen etwa die nationalpazifistischen Gedankenspiele Schröders geschuldet waren. Aber es gibt auch eine Tiefendimension dieser Debatte. Das zeigten etwa die Reaktionen auf die wirklichen oder vermeintlichen Äußerungen von Hertha Däubler-Gmelin, soweit sie ein explizites Vergleichsverbot forderten, das untersagen sollte, eine westliche Macht und ihr Verhalten neben die Praktiken des Nationalsozialismus zu stellen.

Von der Agitation gegen den Vietnamkrieg über die Sozialismusdebatten der siebziger Jahre bis zur Propaganda der Friedensbewegung hatte gerade diese Analogie immer eine entscheidende Rolle gespielt. Die Identifizierung von "Hiroshima" und "Auschwitz", von "Nixon" und "Hitler", von "militärisch-industriellem Komplex" und "Faschismus" gehörte zum Repertoire der Neuen Linken und ihrer Sympathisanten. Dann verschwand sie mit dem "Endsieg des Westens" (Peter Glotz) und schien abgetan. Die Linke, für einen Augenblick orientierungslos, lernte jedoch rasch, sich selbst als Protagonisten der Amerikanisierung und Verwestlichung zu deuten. Immerhin hatten die Demonstranten vor den Amerikahäusern Jeans getragen und Popmusik und Coke zu wichtigen subversiven Mitteln gemacht. Auch das ist ein Beispiel dafür, daß die Wahrung der kulturellen Hegemonie die Fähigkeit voraussetzt, eigene Überzeugungen zu vergessen oder ihnen eine notfalls ganz andere als die ursprüngliche Interpretation zu geben.

Die zivilisatorische, militärische, politische und wirtschaftliche Westbindung wurde nach 1989 Teil des großen gesellschaftlichen Konsenses. Noch im vergangenen Jahr konnte der Historiker Philipp Gassert behaupten, "der Westen" bilde den Kern des "nationalen Mythos der Berliner Republik": "Die sich ausbreitende Rede vom Westen scheint keine Eintagsfliege der Mediendemokratie zu sein. Verwestlichung ist, so viel läßt sich bereits absehen, mehr als ein erfolgreiches Paradigma der Zeitgeschichte, das sich über Zitiergemeinschaften und Schulbildung stabilisiert. Vielmehr ist zu vermuten, daß die Idee einer allmählichen Verwestlichung Deutschlands seit dem Zweiten Weltkrieg Qualitäten einer Sinn stiftenden 'Meistererzählung' besitzt, in der sich der Geist der viel beschworenen Berliner Republik bespiegelt."

Was unterbrach den Fluß der "Meistererzählung"? Wer störte den Konsens, und warum? In einem Beitrag für die Hamburger Wochenzeitung Die Zeit hat Jens Jessen ("Grenzschützer des Westens", Nr. 40/02 vom 26. September) diese Fragen zu beantworten gesucht. Seiner Meinung nach haben die Anschläge auf das World Trade Center zur Bildung einer seltsamen Querfront geführt. Denn die "Kriegslogik", die jetzt Freund und Feind danach unterscheide, ob man im Kampf der Zivilisationen bedingungslos an der Seite Washingtons stehe, nehme Kulturkonservative ebenso ins Visier wie Sozialisten, Verächter der Massenkultur ebenso wie praktizierende Christen, Kritiker der Biotechnologie ebenso wie Globalisierungsgegner.

Die Verantwortlichen für diese "hysterische Fahndung" sind nach Jessen vor allem unter den gewendeten Achtundsechziger zu suchen. Sie haben nicht einfach die Seiten gewechselt, sondern verknüpfen ihre heutige Parteinahme für den Westen mit einem "eigentümlich bolschewistischen Zug". Thomas Schmid, Cora Stephan, Reinhard Mohr und Peter Schneider werden von ihm als Beispiele für jene Intellektuellen genannt, die auf eine verquere Weise ihren alten Idealen (und alten Methoden) treu bleiben, indem sie noch die Verteidigung des schlechten Geschmacks der kleinen Leute als Dienst an der Sache der Freiheit darstellen. Der Feind sei immer noch die "konservative Kulturkritik" und die Verteidigung von Differenziertheit und Bildung.

Jessen dringt mit seiner Analyse da am weitesten vor, wo er auf die Tendenz der "liberalen Gesellschaft" hinweist, alle "... intellektuellen Bezirke, in denen Mehrheitsmeinungen nichts wiegen, planmäßig auszugrenzen und zu denunzieren". Aber darüber hinaus kommt er nicht, was auch die eigenartige Rücknahme der Argumentation erklärt, wenn Jessen den Westen daran erinnert, daß er nur für eine Menge von Verfahren stehe, die nicht selbst Gegenstand einer "Ideologisierung" sein dürften.

Bevor man sich dieser wohlüberlegten Inkonsequenz zuwendet, ist noch auf eine andere Unredlichkeit hinzuweisen. Denn Jessen vertritt mit der Zeit ein Blatt, das in den vergangenen Jahren regelmäßig den geistigen Nachtrab Karl Poppers aufgeboten hat, um die offene Gesellschaft gegen ihre Feinde zu verteidigen. Ein Richard Herzinger etwa durfte Seite um Seite füllen mit seiner fragwürdigen Einsicht in den Zusammenhang von Rechtsintelligenz, islamischem Fundamentalismus und ökologischer Skepsis. Auch deshalb ist Jessens Behauptung eines "neuen Index" der verbotenen, weil antiwestlichen Positionen falsch. Jedenfalls gibt es keinen neuen Index. Er dient seit langem dazu, verbotene Gedanken aufzulisten.

Allerdings wäre es irreführend, anzunehmen, daß dieser Index entscheidend zur Verwestlichung der Bundesrepublik oder zur Aufrechterhaltung der Westbindung beigetragen hat. Beider Erfolg erklärt sich vor allem aus den guten Gründen für den Wandel, etwa die Attraktivität eines auf Entspannung zielenden Gesellschaftskonzepts oder die Verknüpfung der Amerikanisierung mit der Verteidigung gegen den kommunistischen Ostblock. Die Befürworter der westernization waren außerdem geschickt genug, an der Basis volkstümlich aufzutreten und in höheren Sphären eine Geschichtspolitik zu stützen, die mit der These vom "Sonderweg" ein so wesentliches Interpretament für die Deutung der jüngeren Vergangenheit lieferte, daß sogar die Wiedervereinigung nicht als Erfüllung einer nationalen Sehnsucht, sondern als Ziel des "langen Wegs nach Westen" (Heinrich August Winkler) erschien.

Trotz dieser Erfolge verstummen die Warner und Mahner nicht, die die Westbindung Deutschlands für gefährdet halten. Sehen wir von den dahinter stehenden politischen Interessen ab, kann man ihrer Sorge insoweit zustimmen, als die deutsche Mentalität tatsächlich bis heute eine Reserve gegenüber dem Westen und den von ihm repräsentierten Werten erkennen läßt.

Dieser "deutsche Vorbehalt" wird vor allem von drei Überzeugungen bestimmt:

1. einem antimaterialistischen Affekt, der immer wieder die Skepsis gegenüber den segensreichen Folgen des Wohlstands nährt und alle möglichen ethischen Sozialismen ebenso am Leben hält wie die Idee, ein Unternehmen müsse auch in einem anderen als dem wirtschaftlichen Sinne schöpferisch wirken. Max Schelers Verdacht, daß der Kapitalismus "... an erster Stelle kein ökonomisches System der Besitzverteilung, sondern ein ganzes Lebens- und Kultursystem" sei, hat noch heute seine Anhänger, und umgekehrt scheint der Versuch ohne dauerhafte Erfolgsaussichten, den Deutschen einzureden, daß es keiner Vorstellung des guten Lebens bedürfe, sondern aufgeklärtes Eigeninteresse in jedem Fall genüge.

2. Neben diesem antimaterialistischen Affekt spielt eine besondere Idee vom Staat eine Rolle. Hierher gehört die Skepsis gegenüber jeder Erweiterung der staatsfreien Sphäre einerseits, das Mißtrauen gegenüber der Vermischung von Politik und Moral andererseits. Trotz aller statistischen Erhebungen über die Korruption der Eliten und den "Massenmachiavellismus" (Friedrich Meinecke) hält sich in Deutschland hartnäckig die Vorstellung vom Staat als dem Sittlich-Allgemeinen. Daneben steht unvermittelt eine ausgeprägte Skepsis gegenüber der Vermengung politischer und ethischer Argumentation. Auch dabei hat man es mit einer großen Spannweite der Positionen zu tun, die von der zynischen Auffassung, daß alle Ethik in der Politik vorgeschoben ist, bis zu der Meinung reicht, man müsse die Welt erst noch dahin bringen, daß sie die Kongruenz von Politik und Moral zulasse. In jedem Fall wirkt die Ineinssetzung beider Größen in Deutschland immer verlogen, die Maskierung des Interesses immer unerträglich.

3. Zuletzt ist noch hinzuweisen auf ein unstillbares Bedürfnis nach Authentizität, eine instinktive Abwehr von "Gesellschaft" zu Gunsten von "Gemeinschaft". Tatsächlich durchziehen die ganze deutsche Geschichte - zu ihrem Heil und Unheil - "romantische" oder "idealistische" Anläufe, begegnet eine erstaunliche Art von Unbelehrbarkeit im Blick auf das wahrscheinliche Scheitern solcher Versuche. Ohne Zweifel ist dieser Impuls gegenwärtig geschwächt, aber es gibt durchaus Indizien, die für seine Wiederbelebung sprechen, eine Wiederbelebung, die unwahrscheinlich war, weil man die ganze diesbezügliche Tradition abgeschnitten oder unter Verdacht gestellt hatte.

Wenn hier von einem deutschen Vorbehalt gesprochen wird und nicht von einem "Sonderweg", "Eigenweg" oder ähnlichem, dann deshalb, weil die objektive Nähe Deutschlands zum Westen unbestreitbar ist. Die Ähnlichkeit seiner Entwicklung im Vergleich zur englischen, französischen oder nordamerikanischen war immer größer als die zur russischen, bulgarischen oder polnischen. Es gab im Herzen des alten Kontinents keine Äquidistanz zwischen West und Ost, aber den Versuch, den Gefahren der Dekadenz einerseits, der Barbarei andererseits zu entgehen. Erst in dieser Abwehr wurde je nach historischer Lage der Vorbehalt deutlicher erkennbar.

Die Stellungnahme Jessens ist ohne das Wissen um diesen Hintergrund kaum zu verstehen. Wenn andernorts Salman Rushdies Katalog dessen, "... was für uns zählt" ("Küssen in der Öffentlichkeit, Schinkensandwiches, öffentlicher Streit, scharfe Klamotten, Literatur, Großzügigkeit, Wasser, eine gerechtere Verteilung der Ressourcen der Welt, Kino, Musik, Gedankenfreiheit, Schönheit, Liebe") gefeiert wurde, dann genügt ihm das eben nicht. Und das führt zurück zu der Frage, warum Jessen zum Schluß seiner Argumentation wieder einlenkt und versucht, dem Vorwurf antiwestlicher Gesinnung zu entgehen, indem er den Westen gegen dessen "Grenzschützer" verteidigt und andeutet, ihn besser zu verstehen, als er sich selbst.

Ein Grund liegt darin, daß er seine eigene Analyse ernst nimmt, derzufolge der Verdacht antiwestlicher/antiamerikanischer Gesinnung in Deutschland eine besondere Brisanz hat. Von der alten bis zur neuen Mitte reicht die Überzeugung von der Notwendigkeit der Westbindung, die hier mehr Einfluß hat, als die vergleichbare Position in den Nachbarländern, weil sie der Legitimation der politischen Ordnung selbst einen entscheidenden Dienst leistet. Bei allen Unterschieden im Detail, sind sich die tonangebenden Kreise durchaus einig, daß die Verwestlichung der Nachkriegszeit "... keine Verkrümmung der deutschen Seele bedeutet, sondern die Einübung in den aufrechten Gang" und daß es ein großer Fortschritt für Deutschland war, das "verquaste Eigene" (Jürgen Habermas) abzustreifen.

Gegen diese Auffassung gab es nach 1989 noch einmal Einspruch, vor allem aus den Reihen der Intelligenz, die in der DDR ihre Prägung erfahren hatte. Aber der Protest blieb wirkungslos, weil diejenigen, die ihn erhoben, unreiner Motive verdächtig waren oder so wirklichkeitsfern argumentierten, daß ihnen bald jede Gefolgschaft fehlte. Die Annahme jedenfalls, daß das wiedervereinigte Deutschland "deutscher" - und insofern weniger "westlich" - sein werde als die alte Bundesrepublik hat sich nicht erfüllt. Das entsprach der Erwartung, eine "westeuropäisch-atlantische Homogenisierung" (Anselm Doering-Manteuffel) ökonomischer, politischer und sozialer Wertvorstellungen laufe mit der Gewißheit eines Naturgesetzes ab und erfasse nach den alten auch die neuen Länder.

Allerdings nähren die wirtschaftlichen Probleme und die machtpolitischen Verschiebungen der letzten Jahre Zweifel an der Automatik dieses Prozesses. Es gibt ideologische und religiöse Faktoren, die ein Gewicht erlangt haben, mit dem kaum jemand rechnete. Es gibt Zukunftsprognosen, die nicht nur um den Status der USA als Imperium fürchten, sondern von einer "antiamerikanische Revolution" (James W. Ceaser) im Staatensystem ausgehen, deren Folgen kaum vorstellbar sind. Auch das trägt zur Beunruhigung bei im Blick auf die Frage, was "Westbindung" im 21. Jahrhundert eigentlich heißen soll. Jessen weiß um diese Beunruhigung und fürchtet zu Recht, daß vorwitzige Überlegungen unangenehme Reaktionen heraufbeschwören könnten, - deshalb dieser Konservatismus des Als-ob, das versnobte Wehklagen über den Einfluß einer plebejischen und unduldsamen Weltanschauung und deshalb diese Unentschiedenheit. Jeder weitere Schritt müßte hinführen zu einer Rehabilitierung dessen, was oben als deutscher Vorbehalt gegenüber dem Westen gekennzeichnet wurde.

Um der Gerechtigkeit willen ist zuzugeben, daß heute nur schwer gesagt werden kann, wie diese Rehabilitierung zu bewerkstelligen wäre. Das gilt vor allem, weil Kurzschlüsse nahe liegen und gefährlich sind (militärische Abkoppelung von den USA, ein allseits friedliebendes Ökotopia, abendländische Verteidigungsgemeinschaft, Eurasien, "das Reich", schlimmstenfalls ein Bündnis mit dem militanten Islam), und es scheint Teil des deutschen Vorbehalts zu sein, daß er es schwer macht, politische Probleme überhaupt politisch zu lösen. Ernst Niekisch, der sicher aller Sympathie für den Westen unverdächtig war, hat einmal den deutschen "Staatsgeist" kritisiert, dem er "Mangel an Elastizität, an Beweglichkeit und Feinfühligkeit für die Gesetzlichkeit rasch wechselnder Situationen" vorwarf.

 

Dr. Karlheinz Weißmann, Jahrgang 1959, ist Historiker und Studienrat an einem Gymnasium. 1992 veröffentlichte er als Mitherausgeber das Buch "Westbindung. Chancen und Risiken für Deutschland".


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