© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/02 11. Oktober 2002


Oberfläche aus Tiefe
Traurige Bilanz der Popliteratur: Ihre Helden haben zu wenig Nietzsche gelesen
Günter Zehm

Die Oberfläche der Dinge wird nach wie vor mißachtet, ja manchmal verachtet. Oberflächlich genannt zu werden, grenzt an Beleidigung. Daran hat auch nichts geändert, daß gewisse Literaten und Publizisten ("Pop-Journalismus") die oberflächliche Schreibe ausdrücklich zum Stilprinzip erhoben, den Reiz der süßen Haut ("la peau douce") entdeckten und daß der Philosoph Gilles Deleuze ein ganzes Buch über die Haut, nämlich die Falte, schrieb. Nach wie vor bringt es dem Schreiber Prestige, den Phänomenen "auf den Grund" gehen zu wollen, eine Sache "aufzudecken". Unter der Oberfläche versteht man nach wie vor nichts weiter als Einwickelpapier. Sie ist Synonym für Anfängertum, Debütantenliteratur.

Vor allem liegt das an der geringen Qualität der aktuellen Pop-Belletristik und -Journalistik, daran, daß sie den Bezirk der Literatur regelrecht desavouiert und zur Disposition stellt. Statt selber Duftmarken zu setzen, versteht sie sich als eine Art Hilfsdesigner, macht sich in der Werbebranche nützlich, beredet blumig und weitschweifig banale, zum Verbrauch bestimmte Dinge und weist ihnen "Kultstatus" zu. Das ist, als würde man eine Haut streicheln, die mit Pusteln und Geschwüren übersät ist, das Gegenteil von "la peau douce", welche bekanntermaßen atmet und unter der es lebendig pulsiert.

Wer über den Wert der süßen Haut für Literatur (und Philosophie) orientiert werden will, sollte hundert Jahre zurückgehen und sich die Essayistik und Glossenschreiberei der damaligen Ortega y Gasset, Stefan Zweig oder Graf Keyserling ansehen, zum Beispiel Ortegas Betrachtung "Über den Rahmen" oder seine Glosse "Wie unterhält man sich beim Golfspielen?" Es waltet dort eine geradezu schreiende Oberflächlichkeit, aber kein Leser gerät darüber in Verdrießlichkeit, alles bleibt Lächeln, Betroffenheit, der Reiz zum Wiederlesen ist groß.

Im Hintergrund solcher Schreibe stand freilich nicht die Werbebranche, sondern genuiner Kunstwille. Sie spiegelte jene gewaltige geistige Umorientierung wider, die sich damals vollzog, weg von der Transzendenz, hin zum "wirklichen Leben". Nietzsche schlug damals voll ins Feuilleton durch. Der Nietzsche-Schüler Georg Simmel dekretierte, daß die Schriftsteller endlich "konkret" werden müßten, und zwar um des puren Überlebens willen, eine todernste Angelegenheit also.

Simmels "Konkretismus" lief darauf hinaus, daß all unser Sprechen eine "Tiefengrenze" habe, die man nicht unterschreiten dürfe. In einem Text aus dem Nachlaß hat er das höchst energisch so ausgedrückt: "Wenn der Mensch die gegensätzlichen unversöhnlichen Impulse, Pflichten, Bestrebungen, Sehnsüchte alle so tief hinunterdenken würde, so absolut bis ans Ende empfinden, wie ihre und seine Natur erfordern, so müßte er zerspringen, wahnsinnig werden, aus dem Leben laufen. Jenseits einer gewissen Tiefengrenze kollidieren die Seins-, Wollens- und Sollenslinien so radikal und gewaltsam, daß sie uns zerreißen müßten. Nur indem man sie nicht unter jene Grenze hinuntergelangen läßt, kann man sie so weit auseinanderhalten, daß das Leben möglich ist."

Nietzsche hatte den gleichen Gedanken gehegt, ihn aber (in der "Fröhlichen Wissenschaft") weit weniger tragisch ausgedrückt. Die Wahrheit, vermutete er, "ist ein Weib, das Gründe hat, ihre Gründe nicht sehen zu lassen". Wir könnten angesichts der Wahrheit nur schreien, nicht mehr wirklich leben. Wer würdig und intensiv leben will, der muß (nun höre man!): "tapfer bei der Oberfläche, der Falte, Haut stehenbleiben, den Schein anbeten, an Formen, an Töne, an Worte, an den ganzen Olymp des Scheins glauben".

So also das Credo, das war die Warnung. Trotz solcher Warnungen blieben einige natürlich weiter entschlossen, nicht lediglich an Formen, Töne oder Worte zu "glauben". Sie suchten weiter das Risiko des Tieftauchens, selbst um den Preis, daß man sie danach nicht mehr dekompressieren konnte, sie aus dem Leben hinausliefen, unverständlich und taumelig wurden. Diejenigen aber, die nun prononciert auf Formen, Töne und Worte setzten, bewahrten allesamt - von Ortega bis Graf Keyserling - eine schreckensvolle Ahnung von den Risiken des Tieftauchens und ließen sie in ihre Feuilletons einfließen. Nur dadurch konnten sie zu vielbewunderten Equilibristen der Oberfläche aufsteigen.

Heute sind andere Zeiten, aber die Lehre gilt wohl immer noch. Ein im Sinne Nietzsches und Simmels und Ortegas oberflächlicher Stil muß entschiedene Distanz zu den Phänomenen wahren, denen er sich zuwendet. Alles gängige Vokabular, das die Phänomene "verdinglicht" (Simmel) und zum Verbrauch aufbereitet, ist zu meiden. Die Dinge müssen "in einen Rahmen gestellt" (Ortega), das heißt aus ihrem gewohnten Bedeutungszusammenhang herausgenommen, wiederum aber in ihrer Bedeutung erst wirklich versinnlicht und sinnfällig gemacht werden. Der Stil der wahren Oberflächlichkeit ist elitär und volkstümlich zugleich, logisch und metaphorisch in einem, farbig und scharf konturiert.

Und wahrhaftig nicht jeder Gegenstand eignet sich zur Darstellung seiner Oberfläche. Geeignete Gegenstände haben ein bestimmtes, schwer zu bestimmendes Eigengewicht, sie müssen "Spuren" hinterlassen, wie Ernst Bloch (auch er ein Konkretist in der Simmelnachfolge) formuliert hat. "Spuren" - das meint, der Schreiber kann sich nicht mit der bloßen Beschreibung begnügen, er wird zum Fährtenleser, stilistisch zum Ruinenbaumeister, zum Fragmentisten, dessen Wort Leerstellen kenntlich macht, Möglichkeiten und Latenzen.

Gelingende Oberflächlichkeit, sagt Nietzsche, ist "Oberflächlichkeit aus Tiefe". Sie bezeugt Respekt vor den Tieftauchern, zumindest Mitleid mit ihnen, sie ist das Gegenteil von sogenannter frecher Schreibe. Ihr Drang zur Popularität, ihr "Popcharakter", der auch schon an den Essays und Reportagen der Ortega, Keyserling und Stefan Zweig abzulesen war, hat nicht die Spur von Anschmeißerei, schon gar nicht von bewußtem Niederhalten des Niveaus. Sie ist vielleicht konjunkturabhängig, reagiert auf gewisse Launen des Zeitgeistes, liefert sich diesem aber nicht aus, wahrt auch nach dieser Richtung Distanz und Reserve.

Bedenkt man dies alles, muß man konstatieren, daß zur Zeit von einer Literatur der Oberfläche aus Tiefe bei uns wirklich nicht die Rede sein kann. Es mag Ansätze dazu geben, etwa bei Christian Kracht, aber eine Lerche, geschweige denn ein Kanarienvogel, macht noch keinen Sommer. Und so ist denn der Sommer der Popliteratur auch schon wieder in den (Buch-)Herbst des Mißvergnügens eingemündet.

Aus der "Popwelle" ist ein Sumpf beliebiger Vielschreiberei geworden, eine Überproduktion, die - parallell zur überstürzten Firmengründerei und Abzockerei im Zeichen der "New Economy" - geradewegs in die Krise geführt hat. Die süße Haut wartet noch auf ihre modernen Beschreiber und Lobredner.


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