© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/02 11. Oktober 2002

 
Der Kampf ums letzte Gesicht
Das Lächeln der Geköpften ist am schönsten: Michael Hertl erzählt alles über Totenmasken
Günter Zehm

Eines der originellsten, makabersten, ergreifendsten, lehrreichsten und überflüssigsten Bücher dieses Herbstes ist wohl Michael Hertls "Totenmasken. Was vom Leben und Sterben bleibt". Wer interessiert sich denn heute noch für Totenmasken? Nicht einmal Fotografien von Toten sind doch mehr erwünscht, sofern sie nicht im täglichen Fernsehragout vorkommen, sondern Familienangehörige und engste Freunde abbilden. Man will heute die teuren Toten voll lebenssaftig in Erinnerung behalten, in zappelnder Aktion und lachend, wenigstens lächelnd.

Noch vor gar nicht langer Zeit war das anders. Bis in die sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts hinein hing die "Unbekannte aus der Seine" in fast jedem gehobenen Mädchenzimmer, und von Geistesgrößen wie Gottfried Benn oder Bertolt Brecht, Gerhard Marcks oder Frans Masareel, Marie Luise Kaschnitz, Carl Zuckmayer oder sogar noch von Heiner Müller (1995) wurden ganz selbstverständlich Totenmasken abgenommen und unter großer allgemeiner Anteilnahme von den Zeitungen veröffentlicht.

Das neunzehnte und das frühe zwanzigste Jahrhundert trieben einen regelrechten Kult mit den Totenmasken. Man war überzeugt davon, daß diese Gebilde, wenn nicht überhaupt "die Wahrheit", so doch zumindest tiefe Geheimnisse der Verstorbenen preisgaben, daß sich in ihnen ein Eigentliches und mithin Ehrfurcht Gebietendes manifestierte, weil im Augenblick des Hinübergehens gleichsam ein Bann, der "Lebensbann", gelöst werde und uns, die Betrachter der Masken, ein Hauch realer Ewigkeit anwehe, wo sich Anfang und Ende ineinander verschränken.

Die Bücher über Totenmasken aus dieser Zeit, das bekannte Werk von Egon Friedell etwa oder der feierliche Fotoband von Rosemarie Clausen, tragen diesem kultischen Rang Rechnung. Sie heißen "Das ewige Antlitz", "Das letzte Gesicht" oder "Die Vollendeten", und es sind durchweg theologische Werke, wenn nicht gleich rituelle Übungen und Bestandteile des Kults.

Michael Hertl dagegen bringt die Sache auf den Boden exakter Wissenschaft, übrigens ohne dabei etwas zu entehren oder auch nur zu banalisieren. Er ist emeritierter Medizinprofessor, langjähriger Leiter eines großen Krankenhauses und ausgewiesener Spezialist für pathogene Physiognomien und Gesichtsveränderungen. Man erfährt bei ihm buchstäblich alles über Totenmasken und was mit ihnen zusammenhängt, über ihre Geschichte und wechselnde Kommentierung, über Herstellungstechniken und Ideologien.

Und das Wundersame dabei: Der Leser langweilt sich an keiner einzigen Ecke des Textes. Hertl verfügt über einen Stil, dessen Farbigkeit und Charme sofort gefangennehmen, auch wenn es um die trockenste Materie geht. Die Materie ist aber gar nicht trocken, über weite Strecken ähnelt sie im Gegenteil einer atemberaubenden Detektivgeschichte. Denn das Schicksal gerade der berühmtesten Masken, Beethoven, Luther, Shakespeare, Nietzsche, war dramatisch und voller rätselhafter Wendungen, eine grelle Abfolge von mißlungenen Abnahmen, frechen Fälschungen, hektischen, manchmal hysterischen Wettläufen mit Totenstarre und Verwesung.

Es gibt bei Hertl ein die Degoutanz streifendes Kapitel über Verbrecher-Physiognomien, die von eifrigen Forschern abgenommen wurden, unmittelbar nachdem ihre Inhaber geköpft worden waren und man die noch rauchenden Köpfe sofort mit Gips oder Bienenwachs übergoß. Das Unheimliche und Bewegende daran: Ausgerechnet die Masken solcher Delinquenten gehören zu den schönsten, sind nicht entstellt von Auszehrung und letzter Qual wie die Masken vieler großer Geistesarbeiter, sind mit einem fernen, wahrhaft unergründlichen Lächeln versehen, das ihnen eine Bedeutung verleiht, die sie in ihrem Leben nie und nimmer gehabt haben.

Derartige Entdeckungen führen zum Kernpunkt des Hertl'schen Buches, der reflexiv und philosophisch ist. Da geht es um die schwierigsten Fragen der Lebens- und Sterbekunde. Wieso sprechen wir von Toten-"Maske", wo ihr Träger doch eben tot ist und gar nichts mehr maskieren kann? "Maske" bedeutet doch in jedem Verständnis Verbergung, Verhüllung, ein Quidproquo. Es steht ein Wille dahinter. Wer sich eine Maske aufsetzt, der gibt sich für einen anderen aus, für ein Tier oder für einen Gott, wie die rituell tanzenden Leopardenmänner im Kongo.

Maskieren kann weiter heißen, die eigene Persönlichkeit spielend erweitern, seine Möglichkeiten ausschöpfen, Verlockung ausstrahlen und tändelnd Herrschaft über Kavaliere gewinnen nach Art der Damen im Karneval von Venedig. Doch der Verstorbene vermag weder, von sich abzulenken, noch demonstrativ auf sich hinzuweisen. Im Augenblick des Sterbens verflüchtigt sich der Wille, und es war wohl eine Illusion des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, daß die Totenmaske die Gesamtstrecke aller Willensanstrengungen eines Verstorbenen auf geheimnisvolle Weise zusammenraffe und so die Wirklichkeit eines gelebten Lebens in einem einzigen dämonischen Augenblick widerspiegele.

Dennoch neigt auch der kühle Mediziner Hertl zu der Annahme, daß sich im Augenblick des Todes über alle eventuelle Qual des Sterbens hinweg eine unerhörte Erhellung und Einsicht begibt und daß sich dies im Antlitz des Sterbenden kundtut. Wenn nicht jedes Sterbenden, so doch in einzelnen privilegierten Fällen, wo der Wille, also eine Welle, eine pure Energie, sich zur vollen Imago ausfaltet, zum Bild überwundenen Leids und unzerstörbarer Hoffnung wird, zu einer Maske (das heißt hier: zu einem Symbol) von Wirklichkeiten, die wir nicht einmal ahnend zu fassen vermögen.

Beispiel dafür ist Hertl die großartige, wahrhaft gelungene Totenmaske Gerhart Hauptmanns von 1946, die auch den Einband des schönen Buches ziert. Erhart Kästner, der frühere Sekretär des großen Dichters, hat später über sie gesagt: "Dies ist keine Maske, dies ist das Gesicht, das dem Menschen ziemt."

Michael Hertl: Totenmasken. Was vom Leben und Sterben bleibt. Thorbecke Verlag, Stuttgart 2002, zahlr. Abb., 29,90 Euro


 
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