© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/02 11. Oktober 2002

 
Triebfedern einer dynamischen Welt
Karlheinz Weißmann: Mythen und Symbole in Vergangenheit und Gegenwart
Wolfgang Saur

Wahrscheinlich gründen die ideologischen Auseinandersetzungen seit 200 Jahren im Kampf um die Idee von Wahrheit und Erkenntnis, um Menschenbild und Weltverhältnis. Siegreich wurde ein Rationalismus, in dem die Endlichkeit sich absolut setzte und als instrumentelle Vernunft ein umfassendes Herrschaftssystem etabliert hat. Die zerstörerische Kraft dieser technokratischen Ordnung schlägt durch in der Entfremdungserfahrung des modernen Menschen. Deshalb formiert sich im späten 18. Jahrhundert ein intellektueller Protest, welcher der Aufklärung entgegentritt und deren Dogmatik bestreitet.

Dabei geht es nicht um das Komplementärkonstrukt eines neuen Irrationalismus, vielmehr um die Aufsprengung des reduzierten Erfahrungsbegriffs und um Einsetzung eines universalen Erkenntnisorgans (Phantasie oder "Geist"), das der wahren Stellung des Menschen im Kosmos gerecht würde. Als dieser angemessen erscheinen jetzt zunehmend Kunst, Mythos und Geschichte, die bei aller Verschiedenheit als Sinnsysteme doch Wesentliches gemeinsam haben. Das verdeutlicht die "neue Mythologie", die konzeptionell im Zentrum des deutschen Idealismus steht. Diese neue Mythologie entwirft im Gesamtkunstwerk eine universale Versöhnungsgestalt als Reintegration in Freiheit. Sie ist kulturkritisch dreifach zu verstehen: anthropologisch, soziopolitisch und ästhetisch. Anthropologisch will die "neue Mythologie" Selbstentfremdung aufheben, soziopolitisch Eliten und Volk, aber auch die egoistischen Privatleute einer arbeitsteiligen Konkurrenzgesellschaft gemeinschaftlich (in "sittlicher Totalität") zusammenführen und ästhetisch die dichterische Phantasie als Produktionsorgan dafür bereitstellen.

Dieser kritisch-spekulative Vorgang führt auch zu einem neuen Verständnis und der Rehabilitation von Ausdrucksformen und Erlebnisstrategien des Menschen, die die Aufklärung kassiert hatte als reaktionären Anachronismus, so auch Symbol und Mythos. Den Sprachdoktrinären und Verstandessadisten waren die Bilder ein obskurantistisches Greuel.

Im Unterschied zum bloßen "Zeichen" handelt es sich bei "Symbolen" um eine universelle, nicht diskursive Bildersprache der vormodernen Welt, aus der sich die komplexen Erzählungen des Mythos, heilige Ursprungsgeschichten, aufbauen, die vergegenwärtigen, wie die Welt durch ewige Ideen und himmlische Modelle in der Urzeit göttlich begründet wurde und sich seitdem periodisch regeneriert.

Wichtig bleibt für den symbolischen Erfahrungs- und Ausdrucksmodus die Identität von Gehalt und Form , von Spontaneität, Ganzheitlichkeit und existentiellem Betroffensein: Entgegen dem abstrakten Begriff ist "das Symbol die versinnlichte, verkörperte Idee selbst (Gehalt und Form). In einem Augenblick (Spontanität) und ganz (Ganzheitlichkeit) gehet im Symbol eine Idee auf, und erfaßt alle unsere Seelenkräfte (Betroffensein)" (Creuzer). Konstitutiv für Symbol und Mythos, aber auch für die historische Denkform sind weiter: die Narrativität, vor allem aber die Stiftung von "Bedeutsamkeit" überhaupt. Der Auftrag des Menschen als eines animal symbolicum in der Schöpfung ist ein kultureller schlechthin: die flutenden Eindrücke, das Chaos bloßer Daten in eine Ordnung zu überführen durch seine sinnschöpferische Tätigkeit. So weist er den "Absolutismus der Wirklichkeit" zurück und behauptet sich als geistig-seelisches Wesen im Universum. Das wird aber in der säkularistischen Moderne, die Orte und Ereignisse nur mehr funktionell definiert, also aus einem geistigen Zentrum kippt, besondere dringlich. Über Historie, Mythos und Kunst schafft so der Mensch Bedeutungswelten, die "im Unterschied zur nivellierenden Indifferenz" von Wissenschaft, Ökonomie und Technik "bestimmten Zeiten, Räumen und Dingen eine besondere Prägnanz, ein Relief verleihen und sie so der Gleichgültigkeit entreißen" (Blumenberg).

Das und vieles mehr enthält das neue Buch von Karlheinz Weißmann, welches sich bruchlos an frühere Werke des Autors anschließt. Er führt hier seine symbolkundlichen und religionswissenschaftlichen Interessen fort, schließt sie mit Fragestellungen der politischen und Zeitgeschichte zusammen und verknüpft das mit aktuellen Themen. Dies ist zunächst keine systematische Arbeit, vielmehr eine Sammlung von teils schon früher publizierten Studien. Diese wurden indes so überarbeitet und ineinandergefügt, daß ein organisches Ganzes entstanden ist, ein erschöpfender Wurf. Weißmanns beziehungsreiches und überaus anregendes Buch will das Thema nicht frontal angehen, sondern über die Vielfalt individueller "Fallstudien" konkret erschließen, was dem Gegenstand naturgemäß näher liegt als eine lineare Deduktion.

Am stärksten bietet der Teil "Grundzüge einer Symbolkunde" eine Phänomenologie traditioneller Symbole und Archetypen, für deren Ausdeutung umfangreiches Motivmaterial von den indianischen Kulturen bis Japan herangezogen wird (Kreis, Kreuz, Labyrinth, Hand, Schwert, Schiff, Baum, Adler, Löwe). Die beiden anderen Teile ("Symbole" und "Mythen") bestechen mit ihrer historischen Dichte und setzen ungewohnte Akzente. Tatsächlich tauchen mythische Konstellationen und symbolische Muster in Mentalität und Engagement der (zeit-) geschichtlichen Akteure des Buches auf: in regionalistischen Bewegungen, im aktuellen Feminismus, im okkulten Nationalsozialismus, in der französischen Revolution oder im Weimarer "Flaggenstreit", um nur einige Themen zu nennen. Die "Symbolkämpfe" und "Zeichenhandlungen" des 20. Jahrhunderts lassen im leidenschaftlichen Bedürfnis des Menschen nach Identitätsstiftung über Bilder die enormen Themen der "Selbstbehauptung" und des "Widerstands" (gegen Zentralisierung, Globalisierung etc.) erkennen.

Weißmanns Buch leistet in dieser Hinsicht auch einen wertvollen Beitrag zur Frage nach dem Verbleib mythischer Substanz nach dem Zerfall der traditionalen Weltbilder. Die Chiffren des Ewigen, historisch sterblich und doch unvergänglich, sinken ab, können sich aber subjektiv im individuellen Seelenleben (C.G. Jung) oder in Literatur und Kunst, auch trivialmythisch etwa im Film reartikulieren. Mythen, zur Latenz verdammt, vermögen in der Gegenwart zwar nicht mehr einen universalen Horizont zu schaffen, im einzelnen jedoch Akteure zu motivieren und politische Konflikte zu konturieren. Weißmann zeigt in seinen Beiträgen zu einer "religiösen Zeitgeschichte" im Anschluß an Georges Sorel und Hinweisen Ernst Noltes und Armin Mohlers folgend, wie unrealistisch es ist, Menschen als nur rational planend oder egoistisch kalkulierend einzuschätzen. Die eigentlichen Triebfedern liegen meist ganz woanders. Man sieht in diesem Buch, wie ursprüngliche Bilder und religiöse Kräfte eine dynamische Welt organisieren und ihre Thematik sich durch die Textur der Geschehnisse zieht. So verblüfft etwa die tausendjährige (Doppel-)Axt nicht bloß als Werkzeug und Waffe, sondern auch als Emblem in der Bewußtseinsgeschichte.

Immer wieder zeigt sich, wie Symbole als eine "archaische Metaphysik" unterschiedliche Seinsebenen und Gegenstandsbereiche miteinander vernetzen, aber auch, wie sie, vieldeutig und wandelbar, auf ihren "Traditionswanderungen" Prozessen der Umdeutung und morphologischen Veränderung unterliegen. Die Vitalität der Mythen und die Inkommensurabilität des menschlichen Charakters legen sich auf jeder Seite des Buches quer zu den ideologischen Konventionen und bequemen Sprachklischees des heutigen juste milieu. Insoweit verabreicht Weißmann mit seinem "wilden Denken" ein ausgezeichnetes Antidot und Geistestraining gegen zeitgenössischen Kulturschlaf.

Papst Johannes Paul II. in Litauen am "Berg der Kreuze" (1993): Bildsprache der vormodernen Welt

Karlheinz Weißmann: Mythen und Symbole. Edition Antaios, Dresden 2002, 250 Seiten, Abb., geb., 24 Euro


 
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