© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/02 11. Oktober 2002

 
Auch aus den Erinnerungsräumen vertrieben
Der Historiker Manfred Kittel über die Versäumnisse deutscher Zeitgeschichtsforschung in den Ostprovinzen
Axel Jahnke

Deutsche Geschichte ist mehr als rhein-donauländische Heimatkunde." Bereits kurz vor dem Mauerfall verknüpfte der Göttinger Historiker Hartmut Boockmann diese provozierende These mit dem deprimierten Befund, daß die Geschichte der preußischen Ostprovinzen dank bundesrepublikanischer Ignoranz zu einer "Domäne der polnischen Geschichtswissenschaft" geworden sei. Die Klage des vor kurzem verstorbenen, aus dem westpreußischen Marienburg stammenden Mediävisten Boockmann über den rheinbündischen Provinzialismus westdeutscher Zeithistoriker, die die Geschichte Ost- und Westpreußens, Schlesiens und Pommerns zwischen dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges und der Vertreibung beharrlich aus ihren Forschungsprojekten ausgegrenzt hätten, ist jedoch fast ungehört verhallt. Zu diesem Ergebnis gelangt Manfred Kittel, der als Mitarbeiter des Münchener Instituts für Zeitgeschichte registriert, wie passiv seine Kollegen auch in den letzten dreizehn Jahren auf diesem Sektor geblieben sind (Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Heft 3/02).

Kein Wunder, wenn in diesem Frühjahr Günter Grass in seiner Rede zum Gründungsakt der Bundeskulturstiftung konstatierte, die kulturelle Substanz dieser Provinzen sei der Vergessenheit anheimgegeben worden, obwohl das Potsdamer Abkommen die Deutschen schließlich nicht auch aus ihren Erinnerungsräumen vertrieben habe. Daß hier inzwischen jedenfalls "mehr als nur eine landeshistorische Forschungslücke" entstanden ist, führt Kittel auf ein Bündel von Ursachen zurück. Die "historiographische Polonisierung Ostdeutschlands" (so der Berliner Osteuropahistoriker Klaus Zernack) erwachse zum einen natürlich, wie Arnulf Baring annimmt, aus antipreußischen Ressentiments, die in der BRD und in der DDR als Element der Siegerideologie rezipiert wurden. Daran hat offenbar die vorsichtige, von der umstrittenen Westberliner Preußenausstellung im Jahre 1981 angestoßene Neubewertung des "Junkerstaates" noch zu wenig geändert. Denn anders ist nicht zu erklären, warum zwanzig Jahre später, im Preußenjahr 2001, die vielbesuchte, eine Entdeckungsreise durch "Brandenburg-Preußen" offerierende Potsdamer Ausstellung die Provinzen jenseits von Oder und Neiße fast komplett ausblendete und den Hohenzollern-Staat zeitgeistkonform als eine Art multikulturelles Musterländle mit "europäischer" Grundierung empfahl.

Doch die nach 1945 volkspädagogisch geförderte Preußen-Aversion erklärt nur unzureichend das katastrophische Ausmaß dieser nationalen Amnesie, wie es Boockmanns Göttinger Kollege Alfred Heuß 1984 beschrieb: Der deutsche Osten ohne den das Bild Deutschlands "ein halbes Jahrtausend hindurch unvorstellbar" gewesen sei, rangiere im kollektiven Gedächtnis so weit unten, daß man in der BRD und der DDR den Verlust von Königsberg oder Breslau so empfinde, "als ob ein Franzose an den Verlust von Indochina" denke. Das könne nicht allein auf das Konto der Umerziehung gehen. Wolf Jobst Siedler und ihm folgend Peter Graf Kielmansegg brachten daher die "räumliche Nachbarschaft" Ostelbiens zu "Auschwitz, Majdanek und Treblinka" ins Spiel. Um den Verlust des deutschen Ostens habe man nicht trauern können, ohne an "die Lager" erinnert zu werden. Mit der Verdrängung der in der Nähe verübten Verbrechen des NS-Regimes ging also zugleich der eigene, mit "Schuld" kontaminierte Kulturraum dem Gedächtnis verloren.

Handgreiflicher als solche Spekulationen über die Kollektivpsyche scheint Kittels Verweis auf die wissenschaftspolitischen Determinanten, die Forschung und Lehre zur Geschichte Ostdeutschlands sukzessive abgewürgt haben. Ungünstig entwickelte sich die institutionelle Ausstattung schon in den fünfziger Jahren. Im ideologischen Krieg gegen den Ostblock-Kommunismus waren Kenner Ost- und Ostmitteleuropas gefragt, nicht Fachleute allein für ostdeutsche Geschichte. Nur von den persönlichen Forschungsinteressen des Lehrstuhlinhabers hing es dann ab, ob die neugeschaffenen Professuren für osteuropäische Geschichte auch die preußischen Ostprovinzen berücksichtigten. Wo das der Fall war, wie etwa in Bonn unter Walther Hubatsch, entstanden Zentren historischer und politikwissenschaftlicher Forschung über ostdeutschen Themen. Im Zeichen der sogenannten Entspannungspolitik gerieten diese wenigen Forschungsstätten sukzessive unter "Revanchismus"-Verdacht. Für die Mitte der achtziger Jahre illustriert ein Studienerlebnis Kittels das dominierende politische Klima. Begann doch im Erlanger Seminar für Osteuropäische Geschichte ein Dozent die erste Stunde seiner Veranstaltung zur Geschichte der Vertreibung damit, sich für die Themenwahl zu entschuldigen: Sie sei keinesfalls "revanchistischen" Motiven entsprungen. Das geschah zu einer Zeit, als die Kohl-Regierung es nicht für opportun hielt, einen Bericht des Bundesarchives über Vertreibungsverbrechen zu publizieren. Die, wie Kittel meint, "streckenweise polemische Kritik" des im schlesischen Brieg geborenen Berliner Publizisten Herbert Ammon (FAZ vom 05.09.1997) über die Vertreibung - das "Stiefkind" deutscher Zeitgeschichtsforschung - ist jedenfalls hoch anzurechnen, dieses Versäumnis erstmals vor einem breiten Publikum zur Diskussion gestellt zu haben. Die nach 1990 politisch eher noch forcierte Austrocknung jener Institutionen, die sich der ostdeutschen Geschichte widmeten, haben solche kritischen Entwürfe selbstredend nicht aufhalten können.

Unter dem rotgrünen Kulturstaatsminister Naumann mündete dieser Prozeß in eine Kahlschlagpolitik. Da der Begriff Ostdeutschland für die DDR mit Beschlag belegt worden war, standen auch markante Sprachregelungen ins Haus. Das Oldenburger Bundesinstitut für ostdeutsche Kultur und Geschichte etwa heißt seit dem 1. Januar 2001 Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa. Kein Wunder, wenn der Ostdeutsche Rundfunk Brandenburg seinen Zuschauern Kolberger und Stettiner präsentiert, die 1945 "aus Polen" geflohen seien.

Ungeachtet der großen Versäumnisse, die die politische, ökonomische und kulturelle Geschichte Ostdeutschlands betreffen, blickt Kittel mit verhaltener Zuversicht in die Zukunft. Es gibt zwar bis heute keine über Ansätze hinaus gediehene regionale Zeitgeschichte einer ostdeutschen Provinz, die mit dem Mammutunternehmen "Bayern in der NS-Zeit" konkurrieren könne. Nicht einmal die brisante Frage, ob es eine besondere Verantwortung der "ostelbischen Junker" für das Ende der Weimarer Republik gab, sei hinreichend untersucht worden. Natürlich sei man auch von einer Bildungsgeschichte, einer Geschichte der Arbeiterbewegung im Osten und der Erforschung der spezifischen außenpolitischen Bedingungen, unter denen sich die Grenzregionen einschließlich der "Freien Stadt Danzig" behaupten mußten, weit entfernt. Doch weiß Kittel einige Aktivposten der letzten Jahre aufzuzählen, die vielleicht schon ein stärkeres Interesse an ostdeutschen Themen sognalisieren. So glaubt er, in Greifswald, wo doch mit Werner Buchholz ein bei pommerschen Regionalhistorikern höchst umstrittener westdeutscher Import den landesgeschichtlichen Lehrstuhl besetzt, werde nicht nur Vorpommern wieder Gegenstand historiographischer Anstrengungen. In Potsdam sei sogar eine Arbeitsgruppe der Max-Planck-Gesellschaft etabliert worden, die sich mit "Ostelbischer Gutsherrschaft als sozialhistorisches Phänomen" befasse. In Stuttgart habe Norbert Conrads einen "Projektbereich Schlesische Geschichte" aufgebaut, der sich in Zusammenarbeit mit dem Duisburger Salamon-Ludwig-Steinheim-Institut und dem polnischen Historischen Museum der Stadt Breslau auf die Geschichte der Juden vor allem in Schlesien konzentriere. Kittel selbst glaubt, ein "breit angelegtes Projekt zu Politik und Gesellschaft in Ostpreußen zwischen 1918 und 1933" anschieben zu können, "das nach der Entwicklung der Parteien und ihrer Verschränkung mit den regionalen Milieus fragt". Das Ensemble all dieser Forschungen, die eine Förderung der Bundeskulturstiftung verdienten, sei als ein wissenschaftspolitisch wichtiger Beitrag zu begreifen, der den bis heute schon eingetretenen, politisch vielfach erwünschten Verlust kultureller Substanz endlich begrenze.

Foto: Grenzstein am Nogatufer in Westpreußen: Beharrlich ausgegrenzt


 
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