© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/02 11. Oktober 2002

 
BLICK NACH OSTEN
Ausländer und Nomenklaturisten
Carl Gustaf Ströhm

In Ungarn haben die Menschen zum ersten Mal seit langer Zeit wieder Angst." So charakterisierte Professor Bertalan Andrásfalvy, 1990 Kultusminister unter Jószef Antall, dem ersten nichtkommunistischen Premier, die heimische Situation seit dem (knappen) Wahlsieg der Wendekommunisten und Linksliberalen in Budapest.

Die "Wende" in Ungarn sei schon deshalb nicht zu Ende, weil es nie eine Wende gegeben habe, ergänzte János Drábik, Vizechefredakteur der Budapester Zeitschrift Leleplezõ. Die Wahlen, fügte er hinzu, spielten eigentlich keine Rolle, weil nicht über wesentliche Fragen, sondern nur über "drittrangige Themen" entschieden werde.

Die ungarischen Oppositionellen, die dieser Tage in Wien an die Öffentlichkeit traten, zeichneten ein nicht sehr hoffnungsfrohes Bild ihres Landes. Ungarn sei "schwer enttäuscht" über die EU, mit deren Hilfe es wieder zu einem "Land der Großgrundbesitzer" gemacht und die Entstehung eines lebensfähigen Bauerntums verhindert werde. Diesmal aber seien die Großgrundbesitzer nicht Adlige und Magnate, sondern Angehörige der KP-Nomenklatura. 90 Prozent des ungarischen Nationalvermögens seien heute im Besitz von Ausländern oder von einheimischen "Nomenklaturisten". Der ungarische Staat sei, dank der früheren KP-Macht, total verschuldet - seine Gesamtschulden beliefen sich auf 80 Milliarden Euro. Allein der Zinsendienst verschlinge die Einnahmen aus der Einkommenssteuer. Ein gesunder Mittelstand, der eine Grundvoraussetzung für eine souveräne Nation darstelle, existiere nicht, weil die Kommunisten ihn bewußt zerstört hätten.

Insbesondere westliche Firmen bevorzugten in Ungarn die Zusammenarbeit mit Ex-Kommunisten, weil diese anpassungsfähig und dienstwillig seien. Die in den Besitz westlicher Großverlage übergegangenen ungarischen Tageszeitungen hätten bis heute ihre KP-Redakteure beibehalten. Dagegen verfügt die Mitte-Rechts-Opposition nur über eine einzige Tageszeitung - die Budapester Magyar Nemzet. Angeblich soll die neue Linksregierung des als Geheimpolizeioffizier entlarvten Péter Medgyessy dem unbequemen Blatt bereits die Inserate abgedreht und den Druckereivertrag gekündigt haben.

Der Westen sei lediglich daran interessiert, in Ungarn Geld zu machen. Um die östlichen Märkte erobern zu können, setzte der Westen auf die "übernational" geschulten und a-nationalen KP-Kader. Jedes Nationalgefühl, jede Verteidigung der eigenen ungarischen Identität sei da nur hinderlich und sollte - nach der Vorstellung westlicher Exponenten - möglichst sogar verboten werden.

Die in Ungarn und anderswo an den Schalthebeln der wirtschaftlichen und politischen Macht gebliebenen Nomenklatura-Leute seien ideal für diese westlichen Ziele geeignet. Im Gegensatz zu Gestalten wie Imre Nagy und Alexander Dubcek, die noch an eine Idee - etwa den menschlichen Sozialismus - glaubten, denken die gegenwärtigen "roten" Kader nur noch an Geld und Macht. Sie seien Meister der Manipulation. Sie hätten überdies die Infrastruktur und das Eigentum der einstigen kommunistischen Staatspartei für sich gerettet. So sei - behaupten die ungarischen Oppositionellen - der gegenwärtige ungarische Regierungschef Medgyessy, trotz oder wegen seiner "Stasi"-Vergangenheit, einer der reichsten Männer Ungarns.

Und Ungarns neuer 42jähriger Verteidigungsminister Ferenc Juhász, der seit 1996 dem "Ungarischen Atlantischen Rat" angehört, absolvierte diverse kommunistische Parteischulen, bevor er sein Land in der Nato vertreten durfte.


 
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