© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/02 04. Oktober 2002

 
"Deutschländer" für Schröder
Bundestag: Die türkischen Wähler waren das "Zünglein an der Waage" / Einwanderer stimmten nicht konservativ, sondern linksliberal
Frank Philip

Cem Özedemir hat einen Traum. Auf seiner Internet-Seite verbreitete der als "anatolische Schwabe" bekannte Grünenpolitiker bis vor Kurzem einen Text mit der Überschrift "Vision 2000 - Eine deutsche Karriere: Der Lebenslauf von Bundeskanzlerin Dr. Deniz Arslan". Sie war Neujahr 2000 in Kreuzberg als Kind türkischer Einwanderer zur Welt gekommen, hatte erst eine Luise-Rinser-Grundschule, dann eine Fabir-Baykurt-Oberschule besucht. Das Studium der Politologie läßt Özdemir sie mit einer vielsagenden Diplomarbeit über "Multi- und Interkulturelle Gesellschaften der EU im politischen und sozialen Wandel" beenden. Flott promoviert Deniz Arslan über Auswirkungen der rot-grünen Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, geht dann als "Referentin für soziales und ökologisches Handeln" in die Wirtschaft, bevor sie eine steile politische Karriere in der fusionierten Partei "GrünBunt" beginnt. 2049 ist in Özdemirs Vision die Zeit gekommen: erstmals bekommt Deutschland eine Bundekanzlerin türkischer Abstammung.

Nach Özdemirs Rückzug wegen der Bonusmeilen-Affäre sitzen nun drei neue türkischstämmige Abgeordnete im Bundestag. Gerhard Schröder sei der "Kanzler von Kreuzberg", jubelte das türkische Massenblatt Hürriyet nach der Wahl. Mit Stolz merkt die Zeitung an, eingebürgerte "türkische Stimmen" seien beim knappen Wahlsieg für Rot-Grün das Zünglein an der Waage gewesen. Besonders in Kreuzberg, wo der PDS das dritte Direktmandat verwehrt wurde, hätten Türken durch ihr Wahlverhalten Deutschlands politisches Geschick entschieden. Bei einem Sieg Stoibers wären dagegen "alle unsere Träume ins Wasser" gefallen, glaubt Hürriyet.

Türkischsprachige Medien hatten im Wahlkampf massiv für die rot-grüne Regierung geworben. Hoch rechnet man Rot-Grün die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft an. Für "deutsche Türken" seien Schröder und Fischer auch deshalb erste Wahl, da sie Europa nicht als "christlichen Club" verstünden. Jetzt "wird es leichter, der EU beizutreten", zeigte sich die nationalistisch ausgerichtete Zeitung Türkiye nach Schröders Wahlsieg zufrieden.

Über 60 Prozent der Türken wählen SPD

Rund 900.000 eingebürgerte Ausländer, darunter 480.000 Türken, hatten diesmal das Wahlrecht. Nach verschiedenen Untersuchungen neigen sie ganz überwiegend linken Parteien zu, besonders der SPD. Laut dem Essener Zentrum für Türkeistudien würden über 60 Prozent der eingebürgerten Türken für die SPD und 22 Prozent für die Grünen stimmen. Union und FDP seien weit abgeschlagen, bei etwa je 10 Prozent. "Die einstigen Gastarbeiter wurden durch die Gewerkschaften politisch sozialisiert", erklärt Dirk Zalm vom Zentrum für Türkeistudien dieses Ergebnis. Früher hoffte mancher Unions-Stratege, die türkischen Einwanderer dächten traditionell-konservativ, würden also trotz ihres moslemischen Glaubens für die C-Parteien stimmen. Diese Erwartung trog: "Das konservative Weltbild trifft nur auf die erste Einwanderergeneration zu", freut sich der hessische Europaabgeordnete Ozan Ceyhun (SPD). Die jüngeren, bereits in Deutschland aufgewachsenen Türken seien weitgehend linksliberal eingestellt. Richtige "Deutschländer" eben, findet Ceyhun.

Nicht zuletzt mit Blick auf ein riesiges, zukünftiges Wählerpotential von 7,3 Millionen Ausländern brachten SPD und Grüne 1999 gegen den Widerstand der Union ihr neues Staatsangehörigkeitsrecht durch. Der Erwerb eines deutschen Passes wurde massiv erleichtert, und nach der Reform kam es zu einem regelrechten Einbürgerungs-Boom: 1994 wurden noch 61.709 Ausländer eingebürgert, 1998 bereits 106.790, nach der Reform aber 186.691 (2000) und 178.098 (2001) deutsche Pässe vergeben. Rund 40 Prozent der Neubürger behielten ihre alte Staatsbürgerschaft, haben heute also den sogenannten Doppelpaß. "Doppelte Staatsbürgerschaften bringen doppelte Loyalitäten und die Gefahr von Parallelgesellschaften und Gettobildung, deren negative Folgen bereits in vielen Städten zu spüren sind", warnte Bayerns Innenminister Günther Beckstein angesichts dieser Entwicklung. Der CDU-Innenpolitiker Wolfgang Bosbach kritisierte: "SPD und Grüne haben ihre Idee von der multikulturellen Gesellschaft immer noch nicht aufgegeben."

Allerdings war es während der Regierungszeit von Kohl, daß sich die Zahl der Ausländer, speziell der Türken in Deutschland beinahe verdoppelte, vor allem durch eine großzügige Familienzusammenführung. Rein zufällig stellte Beckstein in einem Interview mit Hürriyet kurz vor der Bundestagswahl eine Lockerung der Visumspflicht in Aussicht. Viele Stimmen bekam sein Chef trotz dieses "türkischen Honigs" nicht.


 
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