© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/02 04. Oktober 2002


Deutscher Weg
Plötzlich verkehrte Fronten
Carl Gustaf Ströhm

Zu den im Nachwahltrubel kaum beachteten Mutationen gehört eine fundamentale Veränderung zwischen den beiden Volksparteien. Während die SPD bislang "internationalistisch" argumentierte und die Union einen gewissen verbalen Patriotismus hervorkehrte - noch Adenauer machte von ihm trotz und wegen seines Integrationskurses ausgiebig Gebrauch -, war es im Bundestagswahlkampf 2002 plötzlich umgekehrt: "nationale" Töne kamen von Kanzler Schröder, von dem man das nicht erwartete - während Herausforderer Stoiber "politisch korrekt" blieb. Der CSU-Chef war es auch, der den SPD-Chef in puncto "deutscher Weg" mit dem Hinweis auf die "Belastungen" der deutschen Geschichte zurechtwies. Findet sich folglich der von Franz Josef Strauß ironisch apostrophierte "Sühnedeutsche" heute eher im schwarzen als im roten Lager?

Interessant ist daher ein Interview, das der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk kürzlich dem Wiener Magazin Profil gegeben hat. Sloterdijk, der sich als Grün-Wähler vorstellte (bei dieser Gelegenheit aber Joseph Fischer eins auswischte, indem er den Außenminister als "psychoanalytischen Sozialfall" einstufte), bekannte sich zu Schröders "deutschen Weg". Die Deutschen hätten nach 1945 eine "Quarantäne über ihre eigene Mentalität" und über die nationalen Interessen verhängt. Bis tief in die Kohl-Ära hätten die Deutschen sich als Zöglinge einer "Sonderschule der Demokratie" empfunden. Schröder sei der erste deutsche Kanzler der Normalität. Durch ihn kehre die deutsche Demokratie "in die Familie der nicht-neurotischen Gesellschaften zurück". Sloterdijk erwähnt hier die "ideologischen Sozialarbeiter" und "politischen Psychotherapeuten", die nun unglücklich über den Verlust ihres deutschen Patienten seien.

Auch Schröders USA-Kritik stellt Sloterdijk in einen nationaldeutschen Kontext. Der Kanzler habe signalisiert, daß in den deutsch-amerikanischen Beziehungen ein neues Kapitel aufgeblättert werden müsse: weg von der bisherigen Vasallenposition. Der Philosoph greift den von Bush geprägten Begriff der "rogue states" auf, den er allerdings nicht mit "Schurkenstaaten" übersetzt. Dann sagt der Adorno-Verehrer Sloterdijk mit entwaffnender Unbefangenheit, für ihn seien die USA und Israel "rogue states", weil sich beide aus ihrem Selbstverständnis heraus nicht in die internationale Staatengemeinschaft einordnen wollten. Zum 11. September meinte er, hier seien "Autohypnose" und "Hysterisierung" am Werk.

Es ist bezeichnend, daß daraufhin die bislang konservativ-liberale FAZ den erfahrenen Philosophen durch einen strammen, aber etwas wirren, "politisch korrekten" Jungredakteur niedermachen ließ - und zwar im Feuilleton des Weltblattes.

Niemand im deutschen Vaterlande (ist dieses Wort überhaupt noch erlaubt?) fiel es ein, wenigstens die Frage zu stellen, warum auf der Linken (aus welchen Motiven auch immer) plötzlich das nationale Thema gefragt ist - während Bürgertum und C-Parteien beredt schweigen.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen