© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/02 27. September 2002

 
Benes war nur Churchills Administrator
Der Prager Historiker Jiri Pesek betont die Verantwortung der Alliierten für die Benes-Dekrete
Ekkehard Schultz

In Zeiten des Wahlkampfes in Deutschland mit Themen wie Arbeitslosigkeit und Bildung und der Beruhigung der innenpolitischen Lage in Tschechien ist die Auseinandersetzung um die Benes-Dekrete wieder etwas in den Hintergrund gerückt. Doch das öffentliche Interesse an dieser Problematik ist kaum geschwunden.

Dies unterstrich auch die jüngste Veranstaltung des Tschechischen Informationszentrums in Berlin am vergangenen Mittwoch, in der der renommierte tschechische Historiker der Prager Karls-Universität, Jiri Pesek, zum Thema: "Die Benes-Dekrete und ihre Bedeutung für das Verhältnis zwischen der Tschechischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland" sprach. Der Raum des Zentrums an der Friedrichstraße war mit über 80 Besuchern - Deutschen und Tschechen - bis auf den letzten Platz gefüllt.

Zu Beginn seines Vortrages übte Pesek Kritik an der Berichterstattung von deutschen und tschechischen Journalisten, die sich weitestgehend leichtfertig und ohne Berücksichtigung der historischen Hintergründe diesem "unangenehmen Thema" widmeten. Da die Benes-Dekrete immer ein "Politikum" darstellten, sei es wünschenswert, bei der Berichterstattung mehr Sorgfalt und Sachlichkeit walten zu lassen. Geschichte dürfe nicht "als Waffe" gebraucht werden - weder auf tschechischer, noch auf deutscher Seite.

Bereits 1938 legte Benes einen Teilungsplan vor

Nach Peseks Ansicht begann die Vorgeschichte der Benes-Dekrete mit dem Münchner Abkommen vom Oktober 1938, daß die Abtrennung der mehrheitlich von Deutschen besiedelten böhmischen Grenzgebiete an Deutschland regelte. Bereits vor dem endgültigen Beschluß dieser Vereinbarung zwischen Großbritannien, Frankreich, Italien und Deutschland hatte während der Verhandlungen der tschechische Präsident Benes in Paris einen Plan zur zukünftigen dauerhaften Trennung der deutschen und tschechischen Bevölkerung auf dem Territorium der damaligen Tschechoslowakei zum Zwecke der Bewahrung von "Stabilität" und "innerem Frieden" vorgelegt. Dieser sah eine dauerhafte Abtretung eines Teils der Sudetengebiete mit einer Bevölkerung von etwa 900.000 Einwohnern an Deutschland vor. Im Gegenzug sollte der tschechische Staat das Recht bekommen, 1,5 Millionen Deutsche aus den bei der Tschechoslowakei verbleibenden Gebieten mit deutscher Bevölkerung auszusiedeln und Deutschland verpflichtet werden, diese Personen aufzunehmen. Für den "Rest" der über 3 Millionen Sudetendeutschen - Sozialdemokraten, Juden und deutsche Antifaschisten - sah der Plan deren "Assimilierung" in das tschechische Volk vor. Als Vorbild diente der "Bevölkerungsaustausch" zwischen Griechenland und der Türkei nach dem Ende des Ersten Weltkrieges.

Nach der Besetzung der verbliebenen böhmisch-mährischen Gebiete durch die deutsche Wehrmacht im März 1939 und der Flucht des größten Teils der ehemaligen tschechischen Regierung wurden im Exil die ersten Konzepte einer "Nachkriegsordnung" entwickelt. Laut Meinung von Pesek beruhten diese nur zu einem Teil auf Überlegungen der tschechischen Exilregierung um Eduard Benes in London, sondern gingen ebenso auf Planungen anderer Gruppen wie zum Beispiel polnischer Exilanten zurück.

Zudem verfolgte die englische Regierung schon seit Beginn des Krieges das Ziel, Europa nach dem Krieg zu "stabilisieren". Bereits im Mai 1940 setzte sich in diesen Kreisen die Auffassung durch, daß eine solche "Stabilisierung" nur dann möglich sei, wenn alle Deutschen die Ostgebiete verließen. In diesen Überlegungen lag - so Pesek - die wahre "Ursache des Konfliktes", während alle weiteren Planungen nur Folgen dieser Beschlüsse gewesen seien, so der am 6. Juli 1942 vom englischen Kriegskabinett verabschiedete Beschluß Winston Churchills, der den endgültigen Entschluß zur Vertreibung fixierte. Entgegen landläufiger Auffassungen hatte folglich - so der Referent - das erst eine Woche zuvor verübte Attentat auf Reinhard Heydrich und die folgenden Vergeltungsaktionen - keinerlei direkten Einfluß auf diese Entscheidung, verstärkten aber deren Protagonisten in dem Gefühl, daß die vorgesehenen Maßnahmen "gerecht" seien. Am 15. Dezember 1944 - also nur wenige Monate vor Kriegsende - trug Churchill die 1942 entwickelten Planungen offiziell im englischen Parlament vor und erntete breite Zustimmung.

Voraussetzung für die spätere Durchführung der Vertreibung war jedoch die Zustimmung der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten. Churchill befürchtete, daß Josef Stalin gegen einen solchen Plan Bedenken anmelden würde. In einer Unterredung zwischen Außenminister Anthony Eden und der russischen Regierung, welche bereits im August 1941 in Moskau stattfand, stimmte letztere der Vertreibung zu. Ausschlaggebend für diese Haltung war der dringende Bedarf an westlicher Hilfe im Kampf gegen die deutschen Truppen und die von den Briten garantierte Unantastbarkeit der zwischen 1939 und 1941 von Rußland eroberten Gebiete nach dem Kriegsende.

So sind nach Auffassung von Pesek die seit Ende 1944 bis 1947 unter dem Begriff "Benes-Dekrete" herausgebrachten Dokumente in ihrer Mehrzahl lediglich die konkreten Anwendungsbestimmungen der bereits längst getroffenen und bestätigten Beschlüsse der Großmächte für den böhmisch-mährischen und slowakischen Raum. Die Dekrete des Präsidenten sollten vorübergehend die Gesetzgebung ersetzen, und nach Wiedereinsetzung der Organe nach dem Krieg parlamentarisch bestätigt werden, was auch im Jahre 1946 erfolgte. Das für die deutsche und ungarische Minderheit wesentlichste Gesetz seit Mai 1945 war das Dekret Nr. 3, daß mit "Wiederherstellung der Rechtsordnung" übertitelt war und den Angehörigen beider Volksgruppen alle wesentlichen staatsbürgerlichen Rechte nahm. Dieses Dekret wurde bereits im Exil entworfen, während die eigentlichen Vertreibungs-Dekrete erst nach Kriegsende in Prag verfaßt wurden.

Vertreibungsverbrechen kein Wille des Volkszorns

Die Ereignisse der Vertreibung - so Pesek - sind in zwei Phasen zu unterteilen: in die "wilde" Vertreibung nach Kriegsende bis August 1945, und die "geregelte" nach den Potsdamer Beschlüssen ab September 1945. Nach "vorsichtigen" wissenschaftlichen Angaben seien zwischen Mai und Juli 1945 6.000 Deutsche direkt ermordet, 18.000 in Vertreibungslagern und durch Seuchen ums Leben gekommen. Diese Verbrechen seien - so der Prager Historiker - nur im begrenztem Maße als "Wille des Volkszornes" erklärbar, sondern in ihrer Mehrzahl durch die tschechische Armeeführung - insbesondere ihren Abwehrbereich - geplante und durch deren Angehörige ausgeführte Taten gewesen. Einer der wesentlichen Hintergründe habe in der Befürchtung gelegen, daß das Engagement der Alliierten zur Vertreibung aufgrund der in den ersten Monaten nach Kriegsende bereits katastrophalen Situation innerhalb des verbliebenen Rumpfdeutschlands rapide nachlassen könnte. Ausschlaggebend sei für die Haltung der westlichen Besatzungsmächte die enorme Zahl der bereits aus anderen Gebieten nach Deutschland einströmenden Flüchtlinge gewesen, für die keinerlei Aufnahmemöglichkeit bestand. Tatsächlich versuchten die Alliierten bereits Ende Juni 1945 den Vertreibungsprozeß - wenn auch keineswegs zu stoppen - so doch zu verlangsamen. So sollte die Vertreibung der Sudetendeutschen sich jetzt über einen Prozeß von mindestens fünf Jahre erstrecken, während zuvor mit anderthalb bis zwei Jahren gerechnet worden war.

Den Verlust nahezu sämtlichen Eigentums der deutschen und madjarischen Minderheit leitete das im August 1945 verabschiedete Dekret Nr. 33 ein. 1946 wurde schließlich das noch berüchtigtere "Amnestiegesetz" beschlossen, welches alle "Gewalttaten" im Rahmen der "Widerstandstätigkeit" sanktionierte, das heißt außer Strafe stellte. Nach Auffassung Peseks sei dieses Gesetz jedoch "kein Freibrief für Morde" gewesen. Diese Meinung bekräftigte er damit, daß zwischen Ende 1946 und dem kommunistischen Umsturz im Februar 1948 mehr als 40 Prozesse gegen tschechische Mörder an der deutschen Minderheit eingeleitet und geführt worden seien, allerdings allesamt nach der Machterringung Klement Gottwalds niedergeschlagen wurden. Zur heutigen Bedeutung der Dekrete wollte sich Pesek nur begrenzt äußern, da er "Historiker, und kein Jurist" sei. Formal gesehen stellten sie immer noch einen "Bestandteil der tschechischen Rechtsordnung" dar, doch ohne praktische Bedeutung, da ihre Grundlage fehle. Nach heutiger Auffassung des tschechischen Außenministeriums sei ein Teil der Dekrete zwischen 1944 und 1947 - darunter auch die staatsbürgerliche Entrechtung der Deutschen - grundsätzlich als ungültig zu betrachten; andere - wie die Regelung über die Beibehaltung des unter der deutschen Besatzung eingeführten Rechtsfahrgebots im Personenkraftverkehr - weiterhin gültig. Schwieriger ist nach Meinung Peseks jedoch eine Entscheidung über die heutige Bedeutung der Dekrete im Hinblick auf das Bestreben der 1990 gebildeten deutsch-tschechischen Historikerkommission, das Münchner Abkommen von 1938 juristisch zu "annullieren". Schon aus diesem Grund werde das Thema "Benes-Dekrete" auch in den nächsten Jahren seine Aktualität behalten.

Am Ende seines Vortrages verwahrte sich Pesek strikt gegen jeden Versuch, den Beitritt seines Landes zur EU von der Frage einer endgültigen Rücknahme der Dekrete abhängig zu machen. Bereits Ende 1948 habe die damalige Tschechoslowakei der "Deklaration der Menschenrechte" der UNO zugestimmt, obwohl sie ausdrücklich auf die Bedeutung der Dekrete als "Bestandteil der tschechischen Rechtsordnung" hingewiesen habe. Ein Einspruch sei nicht erfolgt. Nochmals wies Pesek darauf hin, daß die Dekrete auf Beschlüssen der Alliierten beruhten und in ähnlicher Form auch in zahlreichen anderen Ländern wie Polen, Jugoslawien, aber auch Frankreich und Dänemark - wenn auch hier nur mit "begrenzter" Vertreibung zur Anwendung kamen. Grundlage war die "Bestrafung von Kriegsverbrechen" und die Begründung von Maßnahmen zur Beseitigung einer zukünftigen Kriegsgefahr. Wichtig sei der zeitliche Kontext: Während heute Vertreibungen auf der ganzen Welt geächtet würden, habe man diese in den vierziger Jahren noch als legitimes Mittel zur Vermeidung künftiger militärischer Konflikte betrachtet.

Obwohl Pesek somit eine direkte Verantwortung des tschechischen Volkes für die Planung und Ausführung von Entrechtung und Vertreibung der Deutschen aus ihrer böhmischen und mährischen Heimat weitestgehend verleugnete - und lediglich eine Verantwortung für die einzelnen Taten, insbesondere die Morde einräumte - erntete er im Anschluß an seinen Vortrag keinen Widerspruch. Trotz der zahlreichen Teilnehmer kam es lediglich zu vereinzelten Nachfragen nach besonderen Details. Lediglich ein Anwesender machte auf die Tatsache aufmerksam, daß die gemeinsame Geschichte von Deutschen und Tschechen in Böhmen nicht erst mit dem Münchner Abkommen beginne und Teile der Benes-Dekrete in ihrem geistigen Gehalt durchaus an einzelne Äußerungen tschechischer Politiker und Journalisten seit 1848 erinnern. Pesek gab in der Erwiderung zu, daß "Austreibungsüberlegungen" in dieser Zeit - wie auch besonders im Jahr 1897 - in der tschechischen Publizistik zu finden seien. Allerdings halte er diese Planungen für absolute Minderheitenpositionen, ähnlich wie unüberlegte und undifferenzierte Artikel in der deutschen Presse. Auf die am Ende der Veranstaltung von einer tschechischen Teilnehmerin aufgeworfene Frage, ob der Wert des aufgrund der Benes-Dekrete eingezogenen deutschen oder des während der deutschen Besatzung eingebüßten tschechischen Eigentums höher gewesen sei, ließ sich Pesek nicht ein. Die Werte könnten nur grob geschätzt werden, so der Prager Historiker. Man dürfe die Verluste nicht gegeneinander aufrechnen, müsse sich jedoch jetzt endgültig mit deren Dauerhaftigkeit abfinden.


 
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