© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/02 27. September 2002

 
Erzähler auf dem ost-westlichen Diwan
Ivan Denes' Bücher der Schlaflosigkeit
Werner Wilkens

In der anbrechenden Morgendämmerung des eiskalten Wintertages, sind im beginnenden Berufsfrühverkehr, "wenn die letzten Behinderten und Krüppel, die noch zum letzten Dunkel hervorgebrochen waren", die grauen und dunklen Passanten meist häßliche Gestalten, denen er als Fußgänger begegnet. Schließlich steht er, der Schlaflose, an der großen Straßenkreuzung schräg gegenüber der Zehlendorfer Friedenseiche von 1872 und beobachtet durch sein wertvolles Monokular eine miauende kleine Katze im obersten Teil der wunderbar gewachsenen Baumkrone.

Während sich immer mehr Schaulus-tige einfinden und der inzwischen alarmierten Feuerwehr zusehen, ob das an den Zweigen bereits festgefrorene Tier noch gerettet werden kann, denkt der Schlaflose, weshalb sich die Deutschen so schwer mit ihrer Geschichte täten. Eigentlich, denkt er, müßte der Baum doch Siegeseiche heißen. Wäre der Schlaflose ein paar Schritte weitergegangen, bis zur Friedhofsmauer an der alten Dorfkirche, so hätte er dort eine Gedenktafel an Friedrich Wilhelm I., den Soldatenkönig, entdeckt, der hier im Mai 1732 die aus Salzburg vertriebene Protestanten mit den Worten empfing: "Mir neue Söhne - euch ein mildes Vaterland".

Der Begegnung mit der Katze und ihrer späten, allzu späten Befreiung folgte der realen Welt des Daseins, zu welcher der Schlaflose im Laufe seiner frühmorgendlichen Straßenwanderung gehörte, um zu Hause zu sein. Zustand traumhaften-kämpferischen Zurechtfindens, seine zwiefache Existenz. Trotz gelegentlich langer, geschachtelter Sätze vesteht es der Verfasser, mit der Sprache gut umzugehen. Hier und da hätte das Lektorat dem Rechnung tragen sollen. Dessen ungeachtet gelingt dem Autor der weitgespannte Sprung von der Zehlendorfer Eiche der Gegenwart zeitlich zurück in die Toskana, vom preußisch-brandenburgischen Berlin in das blühende Florenz der Renaissance. Über den Vorgängen um das Quartett des Dominikanermönches Fra Agostino, des Rabbi Esra bin Nun, seines Sohnes Reuben und des Wucherers Isaak bin Nun, der der Bruder von Esra, also Reubens Onkel war, schwebt ein Hauch von knisternder Spannung, der sich trotz abschweifender philosophischer Betrachtungen, Gleichnisse und Rückgriffe auf die Kulturgeschichte sogar verdichtet und schließlich mit dem unerwarteten Schicksal des blinden Juden einen schaurig-schönen Abschluß findet.

In einem fiktiven Kapitel über den sich bereits in Wien befindlichen, ehemaligen Primas von Ungarn, Kardinal Mindszenty, zeichnet Denes ein Gespräch des Kardinals mit dem Nuntius in Budapest, das die journalistische Lebendigkeit des Verfassers aufblitzen läßt. Bei mancher tiefgründiger Länge, was einem Schlaflosen zugestanden werden sollte, erfreut daher das Interview gewiß den Leser. Denes spart nicht an falscher Stelle. Seine sprachliche Vielseitigkeit belebt seine ausholenden Gedanken und überläßt die autobiographischen Ansätze der Wahl des Lesers. Mit diesem Werk tanzt Denes aus der Reihe. Das Buch dürfte Beachtung finden.

Ivan Denes: Bücher der Schlaflosigkeit. Roman. Oberbaum-Verlag, Berlin 2002, 329 Seiten, 20,50 Euro


 
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