© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/02 27. September 2002

 
Neues Bauen
Ausstellung: 75 Jahre Weißenhof-Siedlung in Stuttgart
Rüdiger Ruhnau

Nach Vorschlägen des Deutschen Werkbundes ließ die Stadt Stuttgart 1927 auf dem Gelände am Weißenhof von 16 der bekanntesten Architekten Europas 60 Wohnungen errichten. Diese erste umfassende Übersicht über das "Neue Bauen" machte die schwäbische Metropole damals zum Architektur-Nabel Europas. Nach der Inflationszeit gehörte es zum Reformprogramm der Weimarer Republik, den Wohnungsbau wieder anzukurbeln. Nahezu jeder der international anerkannten Architekten baute sein Weißenhof-Haus.

Von Anbeginn gab es um das Bau-Experiment Streit. Zunächst sollten "traditionelle" wie "moderne" Architekten teilnehmen. Paul Bonatz, Erbauer des berühmten Stuttgarter Hauptbahnhofs, entwarf einen ersten Plan für eine generelle Bebauung mit traditionellen Giebelhäusern. Dagegen erhob die Gruppe der progressiven Werkbundmitglieder Widerspruch. Bonatz und Schmitthenner traten aus dem Deutschen Werkbund aus und standen fortan in Opposition zur Weißenhof-Siedlung.

Die architektonische Oberleitung der als Bauausstellung konzipierten Siedlung erhielt nun Mies van der Rohe (eigentlicher Name Ludwig Mies). Um der Siedlung einen einheitlichen Charakter zu verleihen, entsprechend der geradlinigen Form der "Neuen Baukunst" einigte man sich auf die allgemeine Verwendung der Flachdachs. An die Stelle nationaler Baustile trat ein "internationaler Stil", innerhalb dessen die ausgewählten Architekten ihre baulichen Vorstellungen auf der Grundlage moderner Gestaltungsprinzipien realisieren konnten, darunter Peter Behrens, Hans Poelzig und Mies van der Rohe aus Berlin; Mart Stam und J. Oud aus Holland; Le Corbusier aus Paris; Walter Gropius vom Bauhaus Dessau; aus Breslau Adolf Rading und Hans Scharoun.

Von Anfang an waren die Häuser heftigster Kritik ausgesetzt, vor allem das Doppelwohnhaus von Le Corbusier, dessen Fundamente nicht mehr Mauern, sondern Pfosten bilden, das Haus gleichsam auf Stelzensteht. Für die eigentliche Zielgruppe der Ausstellung, Arbeiter und Mittelstand, waren die Häuser unerschwinglich. Im Dritten Reich erklärte man die Weißenhof-Siedlung zur "Entarteten Kunst" und das Flachdach bei Wohnhäusern für "undeutsch". Im Zweiten Weltkrieg wurde die Siedlung von alliierten Bombenflugzeugen teilweise zerstört. Heute wieder aufgebaut, ist sie Eigentum der Bundesrepublik Deutschland.

Zwischen den beiden Weltkriegen mischte Deutschland in der Architektur ganz vorne mit. Allein die vom Bauhaus kreierten Ideen eines funktionalistischen Stils signalisierten weltweit die Spitzenstellung in der modernen Sachlichkeit. Nur hier gab es Einrichtungen wie den Werkbund, das Bauhaus, existierten staatliche Fachschulen für Formgestalter und modernes Design, wurde in den Industrieentwürfen der eigentliche Ausdruck jener Zeit gefunden. In Anerkennung dieser deutschen Vorreiterrolle durfte im Juli 2002 Berlin den Architektur-Weltkongreß ausrichten.

Noch bis zum 6. Oktober zeigt die Galerie der Stadt Stuttgart Pläne, Modelle und Möbel zur Weißenhof-Siedlung. Klare, einfache Formen sind zu sehen, Gegenstände ohne überladene Zier, die ihre natürliche Funktion erfüllen. Es empfiehlt sich, zuerst die Ausstellung zu besuchen und dann die strahlend weiß verputzte Weißenhof-Siedlung zu besichtigen. Wer seine Wohnung modern einrichten möchte, findet an beiden Orten die Anregungen dazu.

 

Die Ausstellung in der Galerie Stuttgart, Schloßplatz 2, ist täglich außer montags von 11 bis 18 Uhr, Mi. bis 20 Uhr, zu sehen. Info: 07 11 / 2 16 27 43


 
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