© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/02 27. September 2002

 
Ein Jahrhundert wird besichtigt
Zwischen Utopie und Kir Royal: In München öffnete die Pinakothek der Moderne ihre Pforten
Wolfgang Saur

Am 16. September wurde in München mit großem Pomp die Pinakothek der Moderne, ein riesiges Schatzhaus der ästhetischen Ausdrucksformen des vergangenen Jahrhunderts eingeweiht. Mit ihm erfährt die Kunst- und Museumsstadt München eine beachtliche Komplettierung. Neben der Alten (alte Meister) und der Neuen Pinakothek (19. Jahrhundert) und in unmittelbarer Nachbarschaft zur Glyptothek, Antikensammlung und Lenbachvilla des Königsplatzes rundet dieses Haus für die klassische und zeitgenössische Moderne das legendäre Museumsquartier in der Maxvorstadt pathetisch ab. Als erstaunlichstes der 150 neuen Museen Bayerns der letzten fünf Jahre reiht es sich ein in die sage und schreibe 1.150 Sammlungen des Freistaats.

Die Pinakothek der Moderne, die mit einem finanziellen Aufwand von 120 Millionen Euro in sechs Jahren gebaut wurde und jetzt mit der Tate Modern oder dem Centre Pompidou wetteifert, führt unter seinem Dach auf 12.000 Quadratmetern vier Münchner Sammlungen zusammen, die bislang keine eigenen Ausstellungsräume besaßen oder beengt und nur provisorisch untergebracht waren: die Staatsgalerie moderner Kunst (Gemälde, Skulpturen), die Neue Sammlung (Kunstgewerbe, Industriedesign), die Staatliche Graphische Sammlung (400.000 Zeichnungen und Druckgraphiken von der Renaissance bis zur Gegenwart) und das Architekturmuseum der TU. Bilder, Grafik, Fotographien, Plastiken, Architekturmodelle, Videoinstallationen und raumfüllende Environments bis hin zu Alltagsdesign füllen die zyklopenartige "Kathedrale des Lichts" und vernetzen sich zu einer bildnerischen Symphonie des modernen Jahrhunderts.

Der rasterförmigen Parzellierung der Maxvorstadt folgend, hat Braunfels als monumentales Pendant zur Alten Pinakothek einen rechtwinkligen Baukörper entworfen, dessen Inneres jedoch über eine durchgehende Diagonale und die zentrale Rotunde erschlossen wird. Die horizontale Schichtung: Design (UG), Grafik/Architektur/aktuelle Ausstellungen (EG), Malerei/Plastik (1. OG) wird architektonisch verklammert durch die diagonal gerichteten, auf und absteigenden Monumentaltreppen und die gewaltige Rotunde, dem Dreh- und Angelpunkt des ganzen Hauses, der das Raum- und Funktionsangebot erschließt und die "Verteilung in alle Bereiche steuert" (Nerdinger). Braunfels' Bau folgt im ganzen einer strengen, auf Quadrat, Dreieck und Kreis aufbauenden Geometrie und schließt sich auch materialiter (Beton, Glas, Stahl) und farblich ("white cube") den Architekturideen der zwanziger Jahre (Bauhaus) an. Diese puristische Ästhetik mit ihrem gestalterischen Minimalismus des weißen Raums und der nackten Wand hat etwas Unerbittliches, und ihr obsessiv beanspruchter Neutralismus bleibt dabei fraglich.

Im Obergeschoß bilden die Säle der Staatsgalerie ein auf einem quadratischen Rastersystem basiertes, in sich verschachteltes Raumgefüge mit labyrinthischem Verlauf und überraschenden Durchblicken, keine übersichtliche Enfilade. Diese dezentrale und fraktale Struktur rechnet mit der Diversität der ästhetischen Konzepte, Schulen, Ismen, verweigert sich einer stilgeschichtlichen Teleologie.

Beim Abstieg in den Untergrund empfängt den Besucher eine riesige Kunst-Architektur­collage: Ein gewaltiger "Setzkasten" reicht dort, einem Riesenspielzeug gleich, bis zur Decke. Seine magisch beleuchteten Kompartimente zeigen in surrealer Verfremdung filigrane Alltagsobjekte, vom Auto bis zum Art-Deco-Möbel: eine ironische Traumphantasie. Die Stilgeschichte modernen Interieurs wird im Designbereich reichhaltig dokumentiert. Man schlendert (in gegenchronologischer Richtung) durch lange Rauminszenierungen, bis man einen Kranz konzentrisch abgetreppter Halbkreise erreicht, die sich gleich Jahresringen nach unten ziehen bis zum Thonet-Stuhl als dem Ursprung aller technischen Möbelfabrikation.

Das baugeschichtliche Pendant dazu gibt der Münchner Glaspalast mit seiner Industriearchitektur als Eisen und Glas (1854), nach dem Vorbild Paxtons (1851). Das Zusammensetzen der fertigen Einzelteile wandelte das traditionelle Bauen zu einer bloßen Montage. Griffen die legendären Glaspaläste horizontal aus, so "eroberte" der Eiffelturm (1889) den Luftraum. Den Sprung in die Utopie wagte schließlich Tatlin mit seinem gigantischen Turmprojekt (1917) für die 3. Internationale. Er wollte eine wirkliche "Maschine zur Erzeugung der Weltrevolution" realisieren, deren überdimensionale kosmologische Symbolik den Kommunismus als "Weltgesetz" erweisen sollte: Das Modell einer titanischen Architekturutopie des XX. Jahrhunderts, freilich unrealisierbar. Immerhin wird sie im Architekturmuseum jetzt vorstellbar durch eine sagenhafte Computeranimation, die das erdachte Monstrum virtuell in die Petersburger Stadtlandschaft hineinzaubert. Das aktuelle Programm: "Konstruktion und Raum" thematisiert anhand eindrucksvoller Architekturmodelle den Wechselbezug zwischen innovativen Raumkonzeptionen und der Explosion technisch-konstruktiver Möglichkeiten im 20. Jahrhundert.

Der Vernutzung des Lebendigen, diesem leeren Funktionalismus, dieser "untergangsgeweihten Welt" traten schon ab 1910 die Expressionisten entgegen, "diese Gläubigen einer neuen Wirklichkeit und eines alten Absoluten" (Benn). Tatsächlich besitzt das Museum einen großen Sammlungsbestand von Werken des deutscher Expressionismus, den Malern der "Brücke" und des "Blauen Reiter". Wie die Fauves (Matisse) brechen sie mit neuzeitlichen Konventionen: dem naturalistischen Bildraum, der Zentralperspektive oder der Lokalfarbe, lassen sich dagegen provozieren durch die abstrakte Formensprache der Negerplastik, den Dekorativismus orientalischer Miniaturmalerei und die Farbigkeit und Spiritualität der Ikonen. Gegenüber einer wesenlosen und verrotteten Welt optieren sie pathetisch für das Unbedingte und Ewige, eine totale Erneuerung des Menschen.

Symbolisch steht dafür Feiningers zum Sternenhimmel aufragende gotische Kathedrale als Frontispitz des ersten Bauhausmanifests (1919). Die prismatisch aufgefächerten Farbflächen seiner Bilder verkünden einen kristallinen, mystischen Expressionismus, vergleichbar dem "Gläsernen Tag" Erich Heckels (1913), dessen Licht- und Erlösungsphilosophie auf sein Erlebnis mit Nietzsches Zarathustra zurückgeht: "Was groß ist am Menschen, das ist, daß er eine Brücke und kein Zweck ist". Eine eschatologische Vision schließlich Franz Marcs "Tirol"-Bild von 1914, das christliches Heilsgeschehen, Natur und Europa am Vorabend des Weltkriegs verschmilzt und in dessen Zentrum die Schutzmantelmadonna als apokalyptisches Weib rückt, die Welt zu erlösen: "Sinnbild sieghaften Glaubens an die Kräfte des Geistes gegenüber der Materie" (Lankeit).

Die Nichtdarstellbarkeit der Welt in der Zerstörung oder als labyrinthische Übermacht, der Realitätszerfall, schließlich die Funktionslosigkeit des Künstlers in der modernen Gesellschaft provozieren seit Cézanne und Kandinsky den Vorgang der Abstraktion, deren vielleicht bedeutendster deutscher Vertreter nach 1945 Willi Baumeister war, von dem die Sammlung wertvolle Stücke zeigt. Historisch unerfreulich dagegen die Erhebung der Abstraktion zum ästhetischen Dogma im Zeichen des Kalten Krieges: ein polemischer Gegenentwurf zum "totalitären Realismus". So kommt es, daß in München Ostkunst ganz fehlt, selbst Spitzenwerke hat man dort zu sammeln verschmäht. Hier wäre ankaufspolitisch manches nachzuholen.

Ein westlicher Versuch, sich gegenständlichen Formen wieder anzunähern, war die "Pop Art", deren Durchbruch in Deutschland 1968 auf der Documenta 4 stattfand. In einer Mischung aus Kritik und Verherrlichung zeigten sich die Popkünstler fasziniert von den banalen Konsumobjekten, Idolen und Stars der kapitalistischen Lebenswelt. Indem sie diese Gegenstände verfremdeten zu merkwürdigen Fetischen oder etwa fotografisches Material werbeästhetisch reproduzierten, setzten sie sich mit der Massengesellschaft auseinander. Kunstpapst der Popart war Andy Warhol.

Herausragend unter seinen Arbeiten in der Münchner Pinakothek seine ikonenhafte Porträtserie des Künstlerkollegen Joseph Beuys in Siebdruck (1980), die den hermetischen Schamanen der Fett- und Filz-Kompositionen erwartungsgemäß mit seinem charakteristischen Hutschmuck zeigt. Sonderbar, daß der fundamentaloppositionelle Verkünder der Kreativität die emblematische Verdinglichung nicht scheute und sich als Markenartikel kommerzialisiert hat. Seine ungeheure Installation aus Granitblöcken, "Das Ende des XX. Jahrhunderts" (1983), bei deren Wirkung der Betrachter zwischen Tiefsinn und Ratlosigkeit schwankt, führt auf die Problematik der totalen Entgrenzung des Kunstbegriffs, wie ihn die Festansprachen indes feierten.

Am überzeugendsten in München wird dies Programm noch in den Situationen des Museums, wo Architektur und Kunstobjekte in eine neue gestalterische Einheit treten und so den künstlerischen Prozeß der Moderne fortschreiben. Um es mit den Worten eines ihrer großen Wegbereiter zu sagen: "Alles kann geschehen, alles ist möglich und wahrscheinlich ... auf einem namenslosen Grunde webt die Einbildungskraft und bildet neue Muster: ein Gemisch aus Erinnerungen, Erfindungen, von Ungereimtheiten und Improvisationen" (Strindberg).

Weitere Informationen im Internet unter www.pinakothek-der-moderne.de .


 
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