© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/02 27. September 2002

 
Kolumne
Doppelmoral
Klaus Motschmann

Eines der wirksamsten Argumente in der politischen Auseinandersetzung ist seit jeher die Bezichtigung der "doppelten Moral", also des Nachweises eines offenkundigen Widerspruchs zwischen dem, was ein Mensch öffentlich propagiert und heimlich dennoch tut. Der hinter uns liegende Wahlkampf hat zahlreiche Beispiele geliefert, die teilweise auch das eine oder andere Wahlergebnis erklären.

Nun sollen Rechtsverstöße auch nicht andeutungsweise verharmlost werden. Es braucht nicht betont zu werden, welchen Verlust an Vertrauen und Glaubwürdigkeit "Doppelmoral" für eine Person oder Institution nach sich ziehen kann. Von Zeit zu Zeit sollte allerdings daran erinnert werden, welche Konsequenzen die Kampagnen unserer intellektuellen Tugendwächter und investigativen Journalisten gegen die "doppelte Moral" nach sich ziehen. Ihr jacobinischer Rigorismus steht in der Regel in keinem vertretbaren Verhältnis zu dem beklagten Verhalten.

So hart man auch jegliche "Doppelmoral" kritisieren kann - eines sollte nicht übersehen werden: daß in diesem Begriff immerhin noch ein Hinweis auf "Moral" enthalten ist und diese auch stillschweigend als Leitlinie verantwortlichen Handelns anerkannt wird. Sonst brauchte man das eigene "abweichende Verhalten" nicht zu verheimlichen. Das "abweichende Verhalten" wird also nicht entschuldigt, gerechtfertigt oder gar zum Vorbild einer "neuen Ehrlichkeit" erklärt, wie es in den letzten beiden Jahrzehnten in zunehmendem Maße üblich geworden ist. Man denke nur an die zahlreichen soziologischen und pädagogischen Theorien "abweichenden Verhaltens", die in dieser Zeit einen verwüstenden Einfluß auf die Jugenderziehung vom Kinderladen bis zur Universität ausgeübt haben. Alles - nur keine Erziehung zur Anpassung an die repressive "bürgerliche Doppelmoral"! Die erklärte ideologische Absicht war und ist nicht berechtigte Kritik an der "Doppelmoral", sondern die systematische Zersetzung der verbindlichen Maßstäbe der traditionellen Moral. Wie aber ist verantwortliches Handeln möglich ohne verbindliche Moral? Orientierungslosigkeit, Verhaltensunsicherheit und Zukunftsangst sind folgerichtige Konsequenzen dieses Verlustes gemeinschafts- und sinnstiftender Moral. Von der rapide um sich greifenden Unmoral und ihren angedeuteten Konsequenzen für Gesellschaft und Politik, insbesondere Bildung, Wirtschaft und soziale Verantwortung war hingegen kaum etwas zu vernehmen. Warum nicht? Sind dies etwa die Anzeichen für den allseits geforderten "Politikwechsel"? Auf die Regierungserklärung darf man gespannt sein.

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaften an der Hochschule der Künste in Berlin.


 
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