© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   40/02 27. September 2002


Das Debakel der Union

Konsequenzen aus dem Wahldesaster der bürgerlichen Opposition
Dieter Stein

In der Parteizentrale der CDU in Berlin wollten am vergangenen Sonntagabend die Sektkorken überhaupt nicht mehr aufhören zu knallen. Derart begeistert waren die Anhänger von Edmund Stoiber und Angela Merkel über das Abschneiden der Unionsparteien, daß sich junge Parteimitglieder gegenseitig im Akkord unter den Tisch soffen. Geschuldet war die Siegeslaune allein den optimistischen Hochrechnungen des Fernsehsenders ARD am Wahlabend, der die Unionsparteien stundenlang vor der SPD taxierte und dadurch die hauchdünne Möglichkeit eines Regierungswechsels vorgaukelte.

Verkatert und ernüchtert haben dann die Strategen von CDU und CSU am auf die rauschende Wahlnacht folgenden Montag aus verquollenen Augen auf die Auswertungen des Endergebnisses starren müssen. Was sich ihnen hier darbot, ist eines der katastrophalsten Wahlergebnisse der Nachkriegsgeschichte. Ein Blick auf die Zahlen genügt, um sich klarzumachen, wie miserabel das Abschneiden der CDU ist: 1998, unter den besonderen Bedingungen des Wechsel-Wahlkampfes, erlitt die CDU ihr schlechtestes Wahlergebnis seit 1949, nämlich 14.004.907 Stimmen (28,4 Prozent). Die CSU erzielte 3.324.325 Stimmen (6,7 Prozent). Jetzt gewann die CDU nur lächerliche 150.000 Stimmen hinzu und kam auf 14.164.183 Stimmen (29,5 Prozent). Die CSU hingegen legte um eine Million Stimmen auf 4.311.513 Stimmen (9,0 Prozent) zu.

Das heißt: Der Zugewinn der gesamten Union geht praktisch allein auf das Konto der CSU. Abgesehen vom Nachbarland Baden-Württemberg (+ 5,1 Prozent) kam es zu keinem nennenswerten Zugewinn gegenüber 1998, sogar zu Verlusten (Bremen und Hamburg)! Abgesehen vom ewigen Sonderfall CSU ist die Union in Gestalt der CDU in derselben niederschmetternden Lage, in die sie von Helmut Kohl 1998 im Jahre seiner Abwahl geführt worden war.

Statt diese Lage zu erkennen und nüchtern zu analysieren, findet in diesen Tagen wieder nur Schönrednerei und Gesundbeterei in der CDU statt, um das Scheitern der Wahl zu kaschieren, deren demoralisierendes Ergebnis lediglich durch den lokalpatriotischen bayerischen Ausschlag abgemildert wurde. Die CDU verfügt derzeit auch nicht über das Führungspersonal, um die SPD aus der Macht zu verdrängen. Christian Wulff in Niedersachsen, Jürgen Rüttgers in NRW, Christoph Böhr in Rheinland-Pfalz - das sind die blassen Gestalten, die einer lendenlahmen Union ein Dauerabo auf die Oppositionsbänke sichert.

Die Wahrheit ist, daß sich das ganze bürgerliche Lager und mit ihm die Unionsparteien in einer völligen geistig-moralischen Defensive befindent. Ausdruck findet dies in der Union durch die Tatsache, daß Stoiber, in dessen Umgebung es vorher schon von Beratern nur so wimmelte, einen Schaumschläger vom Format eines Michael Spreng meinte anheuern zu müssen, um sich sein "Image" liften zu lassen. Dieser "Medienberater" mit dem Charme eines Bulldozers und der Vertrauenswürdigkeit eines russischen Inkassounternehmers sorgte dafür, daß sich die Union mit einer zuckersüßen Soße der Beliebigkeit übergießen und Stoiber sich zum handzahmen Muster-Schwiegersohn, als softe Alternative zum Macho Schröder, umpolen ließ.

Spreng, Ex-Chefredakteur der unter ihm SPD-freundlich getrimmten Bild am Sonntag und Duz-Freund Gerhard Schröders, schickte Stoiber nicht nur auf die Sonnenbank, sondern parfümierte auch die bürgerliche Opposition mit einem Duft aus liberaler Aprilfrische und sozialdemokratischem Verwöhnaroma. Die allerletzten Zähne, die die Union hatte, wurden ihr auch noch gezogen. Law and Order, Ablehnung des Zuwanderungsgesetzes, Ablehnung der Homo-Ehe, christliches Menschenbild, Bejahung der traditionellen Familie, alles wurde aufgelöst in einem diffusen Image-Brei.

Daß der inzwischen in den Urlaub abgemeldete Weichspüler Spreng mit seinem politischen Kuschel-Kurs bei der Union auf keine Widerstände traf, sondern nur sperrangelweit offene Türen einrannte, liegt am Grat der geistigen Zerrüttung, der inzwischen von den Schwesterparteien Besitz ergriffen hat. Das Rückgrat der bürgerlichen Volkspartei ist inzwischen derart mürbe, daß eine überfällige konservative Erneuerung, ja eigentlich eine Revolution nicht von innen, sondern nur unter massivem Druck von außen kommen kann. Warum ist dies so?

Es gibt kein formiertes konservatives Milieu mehr in Deutschland. Die Union ist insofern schlicht nur parteipolitischer Ausdruck des katastrophalen Zustandes, in dem sich das konservative Lager in Deutschland insgesamt befindet. Die Union betreibt so einen von ihrem Führungspersonal gesteuerten konsequenten Anpassungsprozeß an die SPD, weil es für sie keine Alternative mehr zu geben scheint. Die CDU ist im Windkanal des Zeitgeistes inzwischen zu einer Kopie des sozialdemokratischen Originals mutiert.

- Es gibt fast keine überregionale Zeitung mehr, keinen Fernsehsender, der die Union von konservativer, rechter Seite kritisiert und unter Druck setzt. Es gibt hingegen einen permanenten medialen Druck, die CDU solle noch mehr "alte Zöpfe abschneiden", noch "moderner" werden, gesellschaftliche Veränderungen von links (Homo-Ehe, Abtreibung, Zuwanderung) noch fröhlicher akzeptieren. Die Medien, die noch in den siebziger Jahren scharfe konservative Kritik an der CDU publizierten (FAZ, Welt, Christ & Welt, Rheinischer Merkur) nehmen heute durch ihre politische Berichterstattung den Anpassungskurs der Union meist vorweg und ermuntern ihre Politiker zu noch weitergehenden Zugeständnissen.

- Klassische Institutionen, die konservativen Druck ausüben könnten, sind noch anpassungsfreudiger als die CDU selbst. Die großen Volkskirchen drängen die Union beispielsweise in der Frage der Zuwanderung, eine liberalere Position einzunehmen. Immer kraftloser sind die Äußerungen der Kirchen zur Frage von Ehe, Familie und Schutz des Lebens, wobei die Zustände in der evangelischen Kirche besorgniserregender sind als in der katholischen.

- Der Union fehlt der Kampfeswille. Sie hat nicht die Kraft zu einer fundamentalen Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner. Eine längere, massive Kampagne gegen Rot-Grün und gegen die Medien-Öffentlichkeit steht sie nicht durch. Die Unterschriften-Kampagne eines Roland Koch von 1999 gegen den Doppelpaß ist in dieser Union nicht wiederholbar.

- Die Union hat es versäumt, eine eigenständige konservative Medienpolitik zu begünstigen. Unter Helmut Kohl wurden alternative konservative Publizisten sogar teilweise schärfer bekämpft als von links. Geduldet wurden nur Hofschranzen und Opportunisten. Erst in jüngster Zeit mehren sich die Meldungen über die Einstellung oder Entpolitisierung konservativer Magazine und Zeitschriften. Es gibt keine bunte, intelligente rechte, konservative verlegerische und subkulturelle Szene, wie man sie in anderen europäischen Ländern wie Frankreich oder England findet. Spätfolge der nichtvollzogenen "geistig-moralischen Wende" Helmut Kohls, die sich als reine Okkupation der Macht in Bonn entpuppte, ohne eine gesellschaftliche Gegenoffensive zu entfesseln.

Seit 1968 und beschleunigt ab 1982 gibt es eine rasant expandierende metapolitische Hegemonie der Linken in Deutschland, auch weil ihr von Rechts institutionell fast nichts entgegengebracht wird.

Es gibt deshalb nur zwei Möglichkeiten zur jetzigen Entwicklung: Die Union reagiert nur auf Druck durch ernstzunehmende parteipolitische Alternativen von Rechts einerseits und eines unabhängigen, vorpolitischen Raums aus konservativen Initiativen und Medien andererseits. Das setzt aber eine eigenständige konservative Initiative, einen neuen Angriffsgeist voraus. Ernste Parlamentarische Alternativen zur Union sind derzeit tatsächlich bundespolitisch nicht in Sicht. Dutzende Splitterparteien konkurrieren um christliche, rechte, konservative Wähler. Selbst mit wenigen Stimmen strafen sie die Union ab: Die enttäuschten Konservativen "kosteten" bei dieser Wahl die Union entscheidende 1,6 Prozent-Punkte, mit denen Rot-Grün abzulösen gewesen wäre. Eine bittere Strafe für programmatische und politische Defizite!

Es ist letztlich sinnlos, zu erwarten, daß eines Tages in der CDU-Führung ohne Not von alleine ein konservativer Kurswechsel stattfindet. Solange Druck nur von Links kommt, gibt man nur diesem nach. Also muß es Druck von Rechts geben. Laßt tausend Blumen blühen! Zeitschriften, Zeitungen, Verlage, Institute, Vereine, Kongresse, Zirkel.

Die amerikanischen Republikaner stehen beispielsweise unter erheblichem Einfluß zahlloser vor allem kleinerer, aber selbständiger konservativer Organisationen und Zeitschriften, die Motor der konservativen Szene in den USA sind. Es muß noch mehr kampagnenfähige Organisationen im vorpolitischen Raum geben, die notfalls entscheidungsfaule Parteien vor sich hertreiben. Schon während der Debatte um die "Homo-Ehe" haben sich kleine christliche Organisationen auf geschickte Weise mit großer Wirkung mittels Zeitungsanzeigen und Unterschriftenaktionen in die Debatte eingeschaltet und die Union unter Zugzwang gesetzt. Daraus gilt es zu lernen.

Die Konservativen müssen unabhängig von parteipolitischen Konstellationen ihr Schicksal endlich selbst in die Hand nehmen und die Domestizierung durch die Union endgültig abschütteln.

Übrigens kann man unter einem Aspekt eigentlich sogar froh sein, daß sich im Verlaufe der Wahlnacht die Stimmwaage noch zugunsten von Rot-Grün neigte: Es ist uns der Anblick eines servil in Washington Abbitte leistenden Edmund Stoiber erspart geblieben! Aus innenpolitischen Gründen hätte man sich einen Wechsel wohl wünschen können - außenpolitisch ist es nur gesund, daß zwischen den USA und Deutschland der Haussegen endlich auch einmal offensichtlich schiefhängt, daß einmal die Fetzen fliegen, daß ein deutscher Bundeskanzler mal "Nein" sagt. Es ist uns auch ein sicherheitspolitisch zwielichtiger Friedbert Pflüger (womöglich als Staatssekretär!) erspart geblieben. In der Tat: Ob es einem nun paßt oder nicht - Schröder leistet einen Beitrag zur Normalisierung eines deutschen nationalen Selbstbewußtseins. Dahinter steht zwar noch kein außenpolitisches Konzept, jedoch ein gewisses gesundes Volksempfinden. Auch deshalb erzielte die SPD das zweitbeste Wahlergebnis seit 1980.


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