© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/02 20. September 2002

 
"Ich habe eine Neigung zu radikalen Ideen"
Dokumentation eines Fernseh-Gespräches mit Ernst von Salomon, das Wolfgang Venohr 1967 in seiner Reihe "Außergewöhnliche Außenseiter" für die ARD produziert hat

Ende der sechziger Jahre produzierte Wolfgang Venohr als Chefredakteur von "Stern TV" für den Westdeutschen Rundfunk die Serie "Außergewöhnliche Außenseiter". In dieser tatsächlich außergewöhnlichen Reihe porträtierte Venohr u. a. Armin Mohler, Richard Scheringer, Ernst Niekisch, Hans-Joachim Schoeps, Martin Niemöller. Eines seiner eindrucksvollsten Porträts war das über Ernst von Salomon von 1967. Wir dokumentieren nachfolgend den vollständigen Text des Porträts. Wolfgang Venohr unterbrach das Interview immer wieder durch eigene Texte, die im folgenden kursiv hervorgehoben sind. Dieter Stein

Venohr: Herr von Salomon, in Ihrem berühmtesten Buch "Der Fragebogen" haben Sie sich provokatorisch als Preuße bezeichnet. Was verbirgt sich dahinter: Historische Melancholie, literarische Koketterie oder ein politisches Bekenntnis?

Salomon: Ein politisches Bekenntnis natürlich, insofern Politik, 'denken in Ordnungen' bedeutet. Preußen als Staat ist schließlich verschwunden, aber ich bekenne mich zu Preußen als ordnendem Prinzip. Ich schrieb im "Fragebogen" zur Frage 16: "Ich bin Preuße, die Farben meiner Fahne sind schwarz und weiß. Sie deuten an, daß meine Väter für die Freiheit starben und fordern von mir, nicht nur bei hellem Sonnenschein, sondern auch an trüben Tagen ein Preuße zu sein."

"Der Fragebogen", 1951 erschienen, in Deutschland ein Bestseller und bald darauf in viele Sprachen übersetzt, machte Ernst von Salomon mit einem Schlage berühmt und setzte ihn als Schriftsteller in den Mittelpunkt zahlreicher Kontroversen. Doch nicht nur im Fragebogen, was immer er schrieb, ob in "Die Geächteten" oder in "Die Kadetten", sang er das hohe Lied auf Preußen, provozierte er alle Welt mit seinem Bekenntnis zum preußischen Staat und dessen militanten Selbstbehauptungswillen.

Venohr: Der preußische Staat, Sie haben ihn immer wieder verherrlicht; Sie sind sogar nicht davor zurückgeschreckt, in Ihrem brillant geschriebenen Vorwort zu den Kadetten die grausame, die barbarische Seite Preußens zu preisen. Erinnern Sie sich? Sie schilderten das Schlachtfeld, auf dem der 14jährige Junker von Wedell schwerverletzt jammernd und stöhnend in seinem Blute liegt. Friedrich der Große reitet vorbei und soll ihm zugerufen haben: "Junker! Sterb' er gefälligst anständig!" Finden Sie das preußisch, echt preußisch?

Salomon: Ja, ganz unbedingt, ich möchte sagen, das Preußentum als Philosophie, als philosophische Haltung, hat ein sehr nahes Verhältnis zum Tod. Die Preußen waren das einzige Volk - wenn man von den Preußen als Volk reden kann -, das dieses Verhältnis zum Tod hat. Ich erinnere an Clemençeau, der einmal in einem Gespräch mit seinem Sekretär in seinen Garten zeigte und dabei von den Preußen sprach - er verwendete den Begriff "le prussien", auch wenn er die Deutschen insgesamt damit meinte: "Jedes Volk liebt das Leben, aber die Preußen, das ist gefährlich, das ist ein Volk, das liebt den Tod." Dann zeigte er ihm allerdings aus seiner Züchtung eine schwarze Rose und sagte: "Ist das nicht schön? - Schön wie der Tod."

Venohr: Was ist das für Sie, Preußens Gloria? Ist es der militaristische Glanz, der Hohenfriedberger Marsch, Seydlitz' Schwadronen, flatternde Fahnen über zerhackten Karrees im Pulverdampf - alles, was man heutzutage unter Preußens Gloria versteht?

Salomon: Ja, und fügen Sie ruhig hinzu: "Sterb' er anständig Junker!", da sind wir nämlich bei der Frage nach dem Sinn des Sterbens.

Der Sinn des Sterbens, als Sinn des Lebens. "Travailler pour le roi de prusse", "Arbeiten für den König von Preußen", dazu gehört nach Salomon auch das Sterben für den König von Preußen. Das heißt für ihn, einer Idee zu dienen oder eine Sache um ihrer selbst willen tun. In diesem Sinne steht bei Salomon die preußische Idee für die Idee des Staates schlechthin, für die ihm keiner zuviel gefallen ist. Denn Staat heißt Ordnung, und Ordnung erscheint ihm als höchste moralische Maxime. Diese Ordnung ist total, sie umschließt den Geist wie die Tat, sie gibt - suum cuique - "jedem das seine". Preußen, so meint Salomon, lebt für den Staat, einen Staat, in dem die Freiheit des Einzelnen der Autorität des Ganzen zu weichen habe.

Venohr: Sie sprechen und schreiben nie über die große Epoche von 1813 von den Befreiungskriegen. Sie schwärmen vom friederizianischen und vom bismarckschen Preußen, also immer vom autoritären Staat. Nie jedoch vom Preußen Geneisenaus und Scharnhorsts, als Preußen national und demokratisch zugleich war. Sollte das ein Zufall sein?

Salomon: Nein, ein Zufall ist das nicht. Damals hieß es: "Der König rief und alle kamen." Die Historiker wissen natürlich, daß es umgekehrt war: Alle kamen und riefen, bis der König kam. Ich glaube aber, man kann diese Epoche aus der Perspektive Bismarcks sehen. In einer seiner ersten Reden als Abgeordneter des Preußischen Landtages, wandte er sich gegen die Behauptung der Opposition, die Preußen hätten sich gegen Napoleon erhoben, um eine Verfassung zu bekommen. Bismarck hat diese Interpretation sehr bedauert, denn ihm genügte es, daß die Preußen sich erhoben hatten, um die französische Knechtschaft abzuschütteln. Er erkannte, daß mit dieser später behaupteten Deutung des Aufstandes der Deutschen, bzw. der Preußen, der erste Einbruch, der erste Aufschrei gegen die Autorität stattgefunden hat.

Venohr: Sind Sie ein Preuße aus Wahl oder aus Milieu und Erziehung?

Salomon: Meine Familie stammt aus dem Elsaß und vom Niederrhein, geboren bin ich mehr oder weniger zufällig in Kiel, und Schleswig-Holstein gehörte seit 1866 bekanntlich zu Preußen. Ich möchte es aber so sagen: Wenn ich nicht durch Staatsangehörigkeit Preuße geworden wäre, dann wäre ich es durch Wahl geworden.

Das Milieu, in das Ernst von Salomon 1902 als Sohn eines Kriminalinspektors hineingeboren wurde, war das einer typisch preußischen Beamtenfamilie. Mit elf Jahren wurde Salomon Kadett in Karlsruhe. Er gehörte zur jungen Garde des Kaisers. Die preußischen Kadetten ahnten nicht, das dieser glänzende Monarch, dem sie ihr Leben geweiht hatten, daß dieses schimmernde Kaiserreich, für das sie zu sterben bereit waren, die altpreußischen Tugenden der Einfachheit und Bescheidenheit längst preisgegeben hatte. Als der 14jährige Kadett von Salomon 1916 die Hauptkadettenanstalt Berlin-Lichterfelde bezog, da umgaben die ehemaligen Kadetten Hindenburg und Ludendorff den graugewordenen Kaiser. An der Front der Materialschlachten fielen unter Millionen auch Tausende blutjunger Kadetten. Der Krieg gebar die Revolution, die Massen hungerten nach Brot und Frieden, aber die preußischen Kadetten marschierten noch immer in Reih und Glied, sahen nicht links, nicht rechts und träumten noch immer davon, für ihren Kaiser zu sterben.

Venohr: Wie hat der Zusammenbruch von 1918 auf Sie gewirkt? Wie die Nachricht, daß ein preußischer König seine Armee verlassen hatte und ins Ausland desertiert war? Was empfand damals ein königlich-preußischer Kadett?

Salomon: Das war natürlich ein harter Schlag, aber wenn Seine Majestät der König damals, sagen wir es offen, für den königlich-preußischen Kadetten fahnenflüchtig geworden war, dann war das noch lange kein Anlaß für den königlich-preußischen Kadetten, auch fahnenflüchtig zu werden.

Und so blieben sie der Fahne treu, die Kadetten, die Offiziere, die Elite des militanten Preußen, und folgten der Fahne und dem Trommelschlag hinein in das Abenteuer der Baltikumkämpfe, wo sie als Landsknechte und Söldner dienten. Auf diesem Wege zogen sie fort und beteiligten sich in der Brigade Erhardt und in anderen Freikorpsverbänden am reaktionären Kapp-Putsch, der nicht nur die Republik, sondern auch die Einheit des Reiches bedrohte. Sie warfen sich mit Begeisterung und ohne Besinnung in die Arme des deutschen Nachkrieges und waren überall dort zu Hause, wo scharf geschossen wurde. Sie suchten das Reich und fanden den Bürgerkrieg. Sie fochten im Kampf gegen die Rote-Ruhr-Armee für eine Herrschaft, die sie soeben noch selbst mit Aufruhr und Meuterei in Frage gestellt hatten. Auch unter denen, die nach Oberschlesien eilten und den Annaberg stürmten, war der ehemalige Kadett von Salomon. Hier im Kampf gegen die polnischen Insurgenten handelten er und seine Kameraden im Interesse des Reiches. Doch als der Nachkrieg zu Ende ging, geriet von Salomon in nationalistische Verschwörerkreise. Der Weg des Aktivismus führte ihn hin zur Ermordung des Reichsaußenministers Walther Rathenau.

Venohr: Der Rathenaumord, was steckte dahinter? Galt das Attentat dem Erfüllungspolitiker oder galt es dem Juden Rathenau?

Salomon: (Steht auf und geht hin und her) Dem Juden Rathenau? Nein! Das spielte bei den Attentätern gar keine Rolle - es gab ein paar Splittergruppen, die sich völkisch nannten, und später eine gewisse Bedeutung erlangten, aber für uns war das kein Motiv. Der Erfüllungspolitiker? Ja, in gewissem Sinne. Die Jugend hat damals nach dem Zusammenbruch von 1918 nach neuen Ideen gesucht. Sie hat sich nicht gewehrt gegen die neuen Ideen, die überall verkündet wurden, etwa Sozialismus oder Demokratie. Die Jugend hat damals in erster Linie gefragt: Wie kam es zu diesem Verrat, also der Niederlage und dem Zusammenbruch? Sie wandte sich eigentlich gegen die Schicht, die zuvor geherrscht hatte. Sie wandte sich gegen ihre Angehörigen und ihre Ansichten. Sie wandte sich mehr gegen eine Haltung als gegen Ideen. Eine Haltung, die in der Herrschaft des Geldes zum Ausdruck kam - besser gesagt, gegen den Maßstab des Geldes. Sie wandte sich gegen eine Haltung, die den Erfolg über die Erfüllung stellte. Kurz, sie wandte sich gegen den Typus des Bourgeois.

Venohr: War Walter Rathenau für Sie die Verkörperung des Bourgeois?

Salomon: Das war unser Irrtum! Aber das wurde uns erst in der Haft klar.

Irrtum und Anmaßung, Abenteurertum und ein fehlgeleiteter Patriotismus führten zu einem Verbrechen, dessen Folgen Deutschland tief zu beklagen hatte. Schließlich wurde der 19jährige Salomon vom Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik zu fünf Jahren Zuchthaus und Ehrverlust verurteilt.

Salomon: Das Schlimme an der Haftzeit war nicht der Verlust der Freiheit, sondern der Verlust der Würde. Die Freiheit gibt sich leicht auf, jeder, der einer Idee dient, gibt einen Teil seiner Freiheit auf. Aber ich war mit der nackten, würdelosen Ausschließlichkeit der vier Wände konfrontiert. Ich war aber auch gezwungen das Vakuum, das die Natur nicht duldet, auszufüllen, durch eigene Konstruktion, und deshalb war die Haft andererseits auch eine sehr fruchtbare Zeit für mich, weil ich sehr viel Ballast abwerfen konnte, Ballast an falschen Ideen, an Ideologien, an Einbildungen. Ich mußte bemüht sein, unter dem Zwang der Umstände auch das Bild der Tat, an der ich beteiligt war, zu verdichten.

Venohr: Mit einem Schuß Zynismus könnte man sagen, daß sich Ihre Zeit in der Haft auf Ihre Buchproduktion günstig ausgewirkt hat. Auf die Zuchthausstrafe folgte "Die Geächteten", und als Sie nach 1945 von den Amerikanern interniert worden waren, schrieben Sie "Der Fragebogen". Beides sehr provokante Bücher. War das Ihre persönliche Abrechnung mit der amerikanischen Besatzungsmacht?

Salomon: Nein, dazwischen lagen zwölf Jahre Nationalsozialismus, und über diese Zeit wollte ich berichten. Sonst gar nichts.

Venohr: Aber daran ist kein Zweifel, die Amerikaner mögen sie nicht?

Salomon: Ich mag den amerikanischen way of live nicht, der uns da angeboten wird mit einem Philosophie-Pudding, übergossen mit einer Reader's Digest-Soße.

Venohr: Der Fragebogen wurde ein Bestseller, in viele Sprachen übersetzt, und löste die unterschiedlichsten Reaktionen aus. Georg Lukács, der berühmte ungarische Literaturhistoriker, ergötzte sich an dem unverhohlenen Zynismus des Fragebogens und hält Sie, zusammen mit Wolfgang Koeppen, für den bedeutendsten lebenden deutschen Schriftsteller. Deutsche Kritiker bezeichneten Sie dagegen als einen literarischen Faschisten. Wie standen Sie zum Faschismus?

Salomon: Wir selbst nannten uns revolutionäre Nationalisten. Eine Revolution beginnt gewöhnlich mit dem Aufstand des Geistes und endet mit einem Barrikadensturm. Der Nationalsozialismus ist einen anderen Weg gegangen und der Faschismus auch. Hitler hatte einen Legalitätseid geschworen, bei dem Ulmer Reichswehrprozeß, bei dem meine Freunde Hanns Ludin und Richard Scheringer angeklagt waren. Und tatsächlich ist Hitler schließlich auch auf dem Wege demokratischer Wahlen zur Macht gekommen. Sein Nationalsozialismus war eigentlich ein konsequentes Ergebnis der Demokratie, gegen die wir revolutionär zu handeln gedachten.

Die deutschen Nationalrevolutionäre Ende der zwanziger Jahre waren weit von revolutionärem Handeln entfernt. In den Kämpfen des deutschen Nachkriegs hatte sich ihre Dynamik erschöpft, war ihnen die Fragwürdigkeit einer Aktivität um jeden Preis bewußt geworden. Unter der Führung Ernst Jüngers begannen sie dem deutschen Nationalismus ein geistiges Fundament zu erarbeiten. Dabei entfernten sie sich immer weiter von Rechts und gerieten immer mehr in den Bannkreis des Sozialismus. Sie wurden "Linke Leute von Rechts" und bekannten sich zur Gestalt des Arbeiters als Gegentypus des von ihnen leidenschaftlich gehaßten und verachteten Bourgeois, den sie anklagten, den Erfolg über die Erfüllung, den Verdienst über das Vaterland zu stellen.

Venohr: Ist es nicht merkwürdig, daß Sie, als Preuße, immer eine bestimmte Neigung zur Linken, zum Sozialimus gehabt haben?

Salomon: Das ist keine Neigung zur Linken, sondern eine Neigung zu radikalen Ideen. Das heißt Ideen, die bis zur "radix", bis zur "Wurzel" durchverfolgt werden müssen. Und das sind die ewigen Ideen, die konservativen Ideen. Und ich glaube, daß zumindest in dem, was zum Beispiel der Kommunismus von seinen Anhängern in seiner Ordnung an Tugenden verlangt, sehr viel ist, was auch die Tugenden Preußens betrifft: Solidarität, Disziplin, Organisation, Denken für den Staat, der Staat als Maßstab des Handelns.

Venohr: Fühlen Sie nicht als Nationalist einen Anreiz, als Schriftsteller etwas zur Wiedervereinigung zu sagen?

Salomon: Ich tue in letzter Zeit nichts anderes! Ich schreibe an einem Roman - "Der tote Preuße" -, der die Frage der deutschen Einheit betrifft. Es geht um das Leben eines unbekannten preußischen Soldaten, der 1866 in Bad Kissingen im Kampf gegen die Bayern gefallen ist. Es war der sogenannte "Deutsche Krieg", der Krieg um die deutsche Einheit zwischen Preußen und Österreich bzw. dem Deutschen Bund.

Der Preuße Ernst von Salomon bejaht die Entscheidung von 1866. Für ihn waren die Kasernen Preußens zugleich der Hort der deutschen Freiheit. Und der Siegesritt Königs Wilhelms über das Schlachtfeld von Königgrätz gilt ihm als Höhepunkt preußischer Geschichte. Und doch ist er bereit, sich auf den deutschen Bund zu besinnen. Auf den viel geschmähten deutschen Bund, wie er vor 1866 und vor Königgrätz bestand. Nach Salomon müssen die Deutschen mit ihrer Einheit dort wieder anfangen, wo sie beschlossen hatten, mit der Uneinigkeit aufzuhören, vor hundert Jahren. Hier wandelt sich der Schriftsteller vom preußischen Zentralisten zum deutschen Föderalisten.

Salomon: Angesichts der Problematik der Wiedervereinigung müßte man sich doch heute fragen können: Wenn Pankow und Bonn nicht miteinander reden wollen, warum können sie nicht über Wien miteinander reden. Warum sollen die drei deutschen Staaten sich heute nicht zu einem Bund zusammenschließen. Sie sind nicht so sehr verschieden im Vergleich zur Situation vor hundert Jahren.

Venohr: Sie nennen sich einen Preußen, Sie verherrlichen das preußische Gesetz der "verdammten Pflicht und Schuldigkeit". Sie selbst aber lieben die angenehmen, die Lichtseiten des Lebens. Man könnte sogar sagen, Sie lieben den Lebensgenuß.

Salomon: Ich habe den Hunger kennengelernt, und das Schöne am Hunger war, das ich mir vorstellte, wie gut es mir schmecken wird, wenn ich wieder gut zu essen habe. Ich will das Leben ganz. Ich habe es immer ganz gewollt, mit allen Abgründen, zu denen auch der Hunger gehört; mit der Gefangenschaft, aber auch mit der Freiheit und mit dem Genuß. Ich kann nur sagen: Ich saufe niemals aus Verzweiflung, ich saufe aus Wollust.

Venohr: Wie kann man die Bandbreite Ihres literarischen Schaffens erklären? Wie vertragen sich so bemerkenswerte Bücher wie "Die Kadetten" und "Der Fragebogen" mit einem Filmdrehbuch wie "Liane" oder einem Roman wie "Die schöne Wilhelmine"?

Salomon: Dazwischen gibt es eigentlich keinen Qualitätsunterschied, denn jedes Werk verlangt seine eigene Form. Ich habe mich nie zur Literatur als meinem Fach bekannt, ich habe die Literatur nur benutzt, um bestimmte Dinge auszudrücken, um mich mitzuteilen. Es ist natürlich etwas völlig anderes, wenn ich mit literarischen Mitteln berichte, als wenn ich einen Unterhaltungsroman schreibe, der für eine Illustrierte gedacht ist und wo ich keine Meinung zu vertreten habe und keiner Idee verantwortlich bin, sondern einzig und alleine dem Leser. Das ist keine Frage des Qualitätsunterschiedes, sondern sozusagen der Werktreue.

Venohr: Könnte man Sie also auch als einen Publizisten bezeichnen?

Salomon: Natürlich, ich möchte das was ich erlebt habe, mitteilen. Zu diesem Zweck suche ich mir die Mittel. Und die Regeln von Film, Fernsehen und Rundfunk sind eben andere als die des Buches.

Venohr: Haben jene recht, die sagen, Sie seien restlos "ausgeschrieben"?

Salomon: Man hat gesagt, ich sei ein Zeuge der Zeit, und als solcher habe ich mich auch immer gesehen. Deshalb ist auch mein nächstes Lebensziel: Silvester 1999 auf 2000. Bei dem Besäufnis will ich tot umfallen!

Der Preuße Ernst von Salomon, der die Liebe zum Tode preist, er liebt das Leben, ein Leben, das er in vollen Zügen genießt. Das er als Feinschmecker zu sich nimmt. Weit entfernt von jeder friederizianischen oder moltkeschen Askese. Zwischen Schriftsteller und Mensch offenbart sich ein Widerspruch, aus dem sich die literarische Leistung speist. Nur so ist er in der Lage, sein preußisches Credo mit jener formalen Ironie zu behandeln, die ihm in dieser Zeit den Erfolg sichert. Manchmal aber, wie im Nachwort zu den "Kadetten" verzichtet er auf den Zynismus und benutzt den Ernst zur politischen Provokation:

Salomon: "Schließlich heißt es, es gibt keine Kadetten mehr. Man möge mir verzeihen, aber es gibt doch noch Kadetten. Da stehen sie in Reih und Glied, mit Fühlung und Richtung Vordermann, die Knaben mit den runden, noch unausgebildeten Gesichtern. Gesichter eines Typs der noch von der 'verdammten Pflicht und Schuldigkeit' weiß und von der Liebe zum Tode, wenn ihnen ein Prinzip gegeben ist und ein Staate, von diesem Prinzip geformt. Das sind sie, die Kadetten von Leningrad. Es sieht ganz so aus, als würden sie, von einem Kommando aus ihrer Starre erlöst, mit wildem Geheul davonstürzen, um Europa zum Dessert zu verspeisen; dieses lächerliche Anhängsel eines großen Kontinents, dessen letztes Röcheln nach einer ungeheuren und endgültigen Anstrengung immer noch 'Freiheit' heißt, während doch jedermann von der Elbe bis zum Beringmeer, weiß, das die Zukunft der Welt unter der Forderung 'Ordnung und Bindung' steht."

Er brauchte die Freiheit wie die Luft zum Leben

Der Hauptwiderspruch bei Ernst von Salomon besteht in seinem Verhältnis zur Freiheit. Wo immer er geht und steht, wo immer er schreiben mag, er wird sie angreifen, in Frage stellen, lächerlich machen, die Demokratie, die Freiheit. Dabei braucht er sie wie die Luft zum Leben! Er kann nicht atmen ohne individuelle Freiheit, geschweige denn schreiben. Alle seine ernstzunehmenden Bücher sind in demokratischen Zeitläufen entstanden: "Die Geächteten", "Die Stadt", "Die Kadetten", "Der Fragebogen". Das schließt nicht aus, daß es ihm mit seinem Bekenntnis zur Gemeinschaft, zur Nation, zum Staat ernst ist. Von Salomon ist ein Preuße und ein Provokateur. Das Recht zur Provokation liegt im Mut zum Selbstbekenntnis.

Salomon: (Aus den "Kadetten" zitierend) "Jeder Geist sucht seinen Leib, und sollte auch nur die entfernteste Absicht bestehen, das deutsche Volk teilhaben zu lassen an jenem Geiste, der alleine die politischen Geschicke der Menschheit bestimmen soll, dann muß das deutsche Volk, ob es will oder nicht, sich wieder zu einer Nation formieren, einer Nation mit eigener Souveränität und anderen Alternativen als jener so angenehm passiven, sich entweder vergewaltigen oder aber korrumpieren zu lassen. Einer Nation, von der noch niemand recht weiß, welche Gestalt sie annehmen wird, außer daß sie ihren jüngsten Erfahrungen nach, weder des Ostens, noch des Westens ist, weder des Himmels, noch der Hölle, sondern von dieser Erde und jedenfalls mit dem Willen zum Staate, da der Wille zum Staate das einzige ist, was die Nation zusammenhält. So bleibt mir nichts, als mit allen Fasern meines Herzens zu wünschen, es möge dies ein wirklicher Staat sein, ein Staat in der anspruchsvollsten Bedeutung des Wortes. Und solange ich nicht zu sagen in der Lage bin, daß meine Staatsangehörigkeit eine deutsche ist, zu bekennen: Ich bin ein Preuße, und ich will ein Preuße sein."

 

Dr. Wolfgang Venohr war von 1965 bis 1985 Chefredakteur bei "Stern TV" und "Lübbe TV". Der Autor zahlreicher Bücher lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Zuletzt von ihm erschienen: "Die Abwehrschlacht - Jugenderinnerungen 1940-1955", Berlin 2002, Edition JF.

 

Fotos: Ernst von Salomon (links), Wolfgang Venohr (in der Mitte sitzend) bei den Fernsehaufnahmen im Wohnzimmer Salomons: "Ich will das Leben ganz. Ich habe es immer ganz gewollt, mit allen Abgründen, zu denen auch der Hunger gehört; mit der Gefangenschaft, aber auch mit der Freiheit und mit dem Genuß."

 

Ernst von Salomon bei der Zeitungslektüre: "Der Hauptwiderspruch bei Salomon besteht in seinem Ver-hältnis zur Freiheit. Wo immer er geht und steht, wo immer er schreiben mag, er wird sie angreifen, in Frage stellen, lächerlich machen, die Demokratie, die Freiheit. Dabei braucht er sie wie die Luft zum Leben!" (Venohr)


 
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