© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/02 20. September 2002

 
Beziehungskisten
Kino: "Nackt" von Dorris Dörrie
Ellen Kositza

Da treffen sich drei gemischtge schlechtliche Paare, Frühdreißiger allesamt, zum Abendessen, um eine Freundschaft zu begehen, die eigentlich vergangen ist, verfahren zumindest: Emilia (Heike Makatsch) und Felix (Benno Führmann) sind seit kurzem getrennt, worunter beide seelisch wie finanziell leiden, Charlotte (Nina Hoss) und Dylan (Mehmet Kurtulus) sind kürzlich schwer neureich geworden, Annette (Alexandra Maria Lara) und Boris (Jürgen Vogel) bilden eine Art deutsches Durchschnittspärchen.

Der Abend verläuft eher ungemütlich, die Damen der Runde giften vor sich hin, die Herren neiden einander wechselseitig Reichtum und Unbeschwertheit, und weil die angetrunkene, mit ihrer erkalteten Liebesbeziehung unglückliche Charlotte wiederholt "Liebe" als Gesprächsthema einfordert, berichtet Emilia von einer Studie, nach der selbst lange miteinander verbundene Paare auf Fotos nicht mal die Hände des anderen identifizieren können.

Ein Disput aus Versicherungen (männlicherseits) und vorauseilenden Vorwürfen (weiblicherseits) beginnt, und man beschließt nach einigem Hin und Her, nach eingeschnappten Damen und Herren und der Herausbildung zweier Parteien, die Versuchsordnung abzuändern und eine - hochdotierte - Wette abzuschließen: Das reiche und das mittelarme Paar beschwören, den jeweils anderen mit verbundenen Augen nackt zu erkennen. Emilia und Felix, die dagegenhalten, bleiben als Jury angezogen und schauen den anderen beim gegenseitigen "Begreifen" zu.

Das ist ein bißchen gefühlsselig inszeniert: Haut berührt Haut in Nahaufnahme, Hände entdecken Beine und Bäuche neu, "wer ist der Mensch unter diesem Fleisch?" soll das bedeuten. Daß das Experiment negativ ausfällt für die vier Nackten, liegt zwar am subjektiven Interesse der Jury, doch es löst immerhin ein tieferes Nachdenken bei allen Beteiligten aus, das, nach Beendigung des eher ungeselligen Beisammenseins, pärchenweise vollzogen wird. Verflachte Gefühle und das selbstverschuldet alltagsbanale Freizeitleben kindgebliebener Erwachsener kommen hier auf den Tisch. Einmal sieht man Dylan im Designeranzug zwischen den verglasten Wänden seiner Nobelvilla sitzen, und aus ihm schreit es ungehört heraus: "Warum haben wir eigentlich keine Kinder?!"

Das ist ein rührender, ein gutgemeinter Film von Doris Dörrie mit all den lieben Botschaften, die, so sie beherzigt würden, sicherlich glücklichere Menschen und ein insgesamt netteres Zusammenleben garantieren würden: Leute, respektiert doch auch mal die Macken anderer, schaut doch mal weniger fern und nicht nur aufs Geld, und, vor allem: redet miteinander! Viele freundliche Wahrheiten und liebgemeinte Denkanstöße stecken in dieser Verfilmung von Dörries Buch, etwa, wenn sich die Protagonisten eingestehen, doch gelegentlich ganz happy zu sein - doch wer ist schon je glücklich?

Man sagt von Doris Dörrie, einer der erfolgreichsten deutschen Regisseurinnen, sie betreibe nach dem plötzlichen Tod ihres geliebten Mannes vor fünf Jahren eine spirituell motivierte Innenschau, die auch in ihren Filmen zum Tragen kommt. Kurtulus, der einst in "Kurz und Schmerzlos" von Fatih Akin ein furioses Debüt seiner Schauspielkarriere gab, nennt "Nackt" euphemistisch einen "Gefühlsaction-Film", in dem es vor "emotionaler Spannung" nur so knalle. Diese Wertung freilich erscheint übertrieben, sehr artig ist der Film, reichlich klischeebeladen und bisweilen langatmig der Stoff, den er diskutiert. Ein typisch deutscher Film über typisch deutsche "Beziehungskisten" eben, moralisch und durchschaubar von Anfang bis Ende.

Die Verfilmung von Dörries Bestseller "Happy" wurde vom Bayrischen Filmförderungsfonds mit einer Million Euro gefördert. Das freilich ist eine etwas fragwürdige Unterstützung für eine bereits arrivierte Filmemacherin, und dadurch wurde sicher der Zugriff auf die Oberliga deutscher Schauspieler erleichtert - auch wenn diese, wie "Fräuleinwunder" Nina Hoss eine schlechte Leistung bieten.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen