© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/02 20. September 2002

 
Apokalyptisches aus dem Totenhaus
Theater: "La vera Storia" von Luciano Berio in deutscher Erstaufführung auf der Bühne der Hamburgischen Staatsoper
Axel Michael Sallowsky

Hamburgs umtriebiger Generalmusikdirektor Ingo Metzmacher servierte den Hanseaten zum Auftakt der Spielzeit 2002/2003 mit Luciano Berios Oper "La vera Storia" einen nicht gerade leicht verdaulichen musikdramatischen Happen.

Wer da in die Hamburgische Staatsoper gekommen war, um sich ein wenig nur (man wußte ja in etwa, was da auf einen zukommt) belcantisch-musikalisch verwöhnen zu lassen, der wurde (ob er nun wollte oder nicht) von der Musik, von düsterer, gespenstischer Handlung, von einem poetisch-philosophisch tiefgründigen Text sowie von Regie und Bühnenbild unbarmherzig zur kritischen Reflexion gezwungen, aus der es kein Entrinnen gab.

Und wer sich sommerlich-schön gewandet, braungebrannt und gutgelaunt zur Premiere eingefunden hatte, um vor der von Berio in sein Werk "eingebauten" italienischen Chanson-Ikone Milva schmachtend niederzuknien, der geriet zwar kurz und durchaus in einen Zustand milvanisch-musikalischer Verzückung (Milva ist und bleibt eben Milva), der wankte aus dem Operntempel dann aber wohl doch leicht benommen und eher traumatisiert als verzückt wieder hinaus.

Dabei gewiß um Atem ringend, mühselig nach Antworten suchend auf die in dieser Deutschen Erstaufführung gestellten unbequemen Fragen, die voll in die Wirklichkeit von heute zielen (11. September, allgemeine, globale Depression, Zukunftsängste, Diktaturenspiele mitten unter uns sowie in der Dritten Welt etc).

Nein, ein "normaler" Premieren-und Opernabend zum munteren Plausch in der Pause war das weiß Gott nicht in Hamburg.

Regisseur Henning Brockhaus, vom treuen Strehler-Assistent zum feinsinnigen, jedes Werk mutig und stets unkonventionell hinterfragenden Analytiker herangereift, übersetzte Berios bereits 1982 in der Mailänder Scala uraufgeführten genialischen musik-dramatischen Fragmente (um nichts anderes handelt es sich hier) in ein schauriges, hinreißendes Psychogramm über den wahren Zustand unserer Innen-und Außenwelt, das dann auch als beklemmender "apokalyptischer Schöngesang aus einem Totenhaus" über die Rampe kam.

Ja, das ging unter die Haut, ließ sich mit keinem Champagner in der Pause so einfach "runterspülen".

Ezio Toffolutti lieferte Brockhaus dazu eine raffiniert-realistische, zugleich irrationale Bilder-Welt aus sich brutal hin-und herschiebenden Versatzstücken. Womit Toffolutti der von Brockhaus kammermusikalisch-mosaikartig herausgefilterten Zerrisenheit und Verlorenheit des modernen (wie ewigen) Menschen weitere düstere Konturen aus Weltschmerz, Tristess und Hoffnungslosigkeit hinzufügt.

Was aber ist "La vera Stoira" (die wahre Geschichte)? Es ist letztlich eine nicht erzählbare Geschichte. Es ist die Geschichte aller Geschichten, es ist die blutige Geschichte dieser Welt, es ist die zwischen Possen, Lachen und Weinen angesiedelte, zwischen Gut und Böse hin und her pendelnde Tragödie der Menschheit, die mit der Verjagung aus dem Paradies begann und mit der unliebsamen Landung in der diesseitigen Hölle und im Heute endet.

Hölle, das ist hier die alte und die moderne Welt, ist stets der Mensch allein, ist die qualvolle, seelenlose Zeit zwischen Geburt, Leben und Tod, ist die Verstrickung eines jeden einzelnen sowie im Kollektiv in eine nicht mehr sühnbare, tilgbare Schuld.

"La vera Storia", das ist eine Hamburger Sternstunde modernen Musiktheaters, in der Ingo Metzmacher Solisten (neben der Milva glänzten darstellerisch und bisweilen sogar belcantisch Hellen Kwon, Yvonne Naef und Ashley Holland),Chor und Philharmonisches Staatsorcherster virtuos durch eine imposante und wahrhaft höchst komplizierte Partitur führte. Das Premieren-Publikum war wohl ebenso konsterniert wie fasziniert, und so fiel der Schlußapplaus ein wenig verhalten aus. Berio ist halt nicht Verdi, mit dessen Arien in Blut und Kopf man pfeifend das Opernhaus verläßt. Trotzdem: "La vera Storia", das war ein leuchtender Stern am hanseatischen Opernhimmel.

Die nächsten Aufführungen in der Hamburgischen Staatsoper, Dammtorstraße 28, finden statt am 21. und 25. September sowie am 2., 5. und 9. Oktober. Beginn ist jeweils um 19.30 Uhr. Die Karten kosten zwischen 4 und 77 Euro. Info: 040 / 35 68 68


 
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