© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/02 20. September 2002

 
Die reflektierte Antike
Demokratie als latenter Gewaltcharakter des Politischen: Betrachtungen über die Gegenwart der griechischen Klassik
Josef Schüsslburner

Die hohe Besucherzahl, die in Berlin die derzeit in Bonn gezeigte Ausstellung "Die griechische Klassik - Idee oder Wirklichkeit" (JF 11/02) aufgewiesen hat, macht deutlich, daß in Deutschland trotz des Niedergangs des traditionellen humanistischen Gymnasiums das Bewußtsein von der maßgebenden Bedeutung der griechischen Antike noch vorhanden ist. Der im Athen des 5. Jahrhunderts v. Chr. in allen kulturellen Bereichen wie Politik, Theater und vor allem Bau- und Skulpturenkunst gepflegte Stil ist bereits im 4. Jahrhundert v. Chr. als maßgebend angesehen und dann von den Römern als "klassisch" bezeichnet worden. In Athen und nicht in Jerusalem, wie heutige Ideologen wie Hannes Stein (Moses und die Offenbarung der Demokratie) meinen, sind insbesondere in der Philosophie des 4. Jahrhunderts, die das vorausgegangene Jahrhundert reflektiert hat, die heute maßgebenden politischen Begriffe geprägt, ja Politik als solche erfunden worden.

Die kulturellen Renaissancen Europas sind wesentlich auf die Auseinandersetzung mit dieser Klassik zurückzuführen, die als reflektierte Antike gekennzeichnet werden könnte. Diese Rezeptionen waren immer auch von bezeichnenden Mißverständnissen mitgeprägt und dementsprechend versteht sich der Untertitel der Ausstellung als Korrektur eines derartigen Fehlverständnisses. Was damit konkret gemeint ist, kam in dem Kolloquium zum Ausdruck, das zum Thema: "Die andere Seite der Klassik - Gewalt im 5. und 4. Jahrhundert vor Christus" erst mit Beginn der Ausstellung in Bonn durchgeführt wurde. Damit sollte wohl einem zu idealistischen Verständnis der Klassik entgegengewirkt werden.

In der Tat: Das Jahrhundert der Demokratie, die in Athen erfunden worden ist, war ein Zeitalter kriegerischer Gewalt. Die modisch-liberale Vorstellung, die allerdings - wie deren Kriegsbereitschaft deutlich macht - von der sie propagierenden neuzeitlichen Hauptmacht nicht geteilt zu werden scheint, wonach Demokratie für Frieden steht, war den Griechen unbekannt, war doch die wesentliche Rechtfertigung der Demokratie gegenüber der Oligarchie oder Aristokratie die Erfahrung des Krieges, in dem im Interesse der staatlichen Gemeinschaft alle Bevölkerungsschichten ihr Opfer gebracht haben. Außerdem ist das Organ der Volksversammlung aus der bereits von Homer beschriebenen Heeresversammlung hervorgegangen. Zwar gab es auch in der Antike Abrüstungspolitik, indem etwa den Besiegten die Schleifung der Befestigungsanlagen aufgezwungen wurde, damit sich die Macht des Siegers durch Förderung der "Freiwilligkeit" des Besiegten besser verwirklichen konnte. Aber ist es in der Neuzeit mit dem Atomwaffenpotential privilegierter Mächte anders, die nicht privilegierte Staaten mit Abrüstungskriegen bedrohen?

Im übrigen deutet bereits der Begriff Demokratie, etwa anstelle von Demo-archie, auf Gewalt- und Kriegsbereitschaft hin, da "Kratos" die Vollstreckungsgewalt meint. Und bemerkenswerterweise heißt es auch im Grundgesetz (Art. 20 Abs. 2), daß alle "(Staats-) Gewalt" - und nicht etwa die "Macht" - vom Volke ausgeht, womit gerade im Zusammenhang mit der Definition von "Demokratie" der latente Gewaltcharakter des Politischen angedeutet wird.

Damit zeigt sich, daß die Auseinandersetzung gerade auch mit der Realität des Klassischen die eigene politische Existenz begreiflicher macht. Selbst die Tatsache der Sklaverei, die im demokratischen Athen durchaus rabiat praktiziert worden ist, macht deutlich, daß es wohl einen Zusammenhang zwischen der in Amerika praktizierten neuzeitlichen Sklaverei und der eben dort entstandenen Freiheitsideologie gibt: Das in sachenrechtlicher Härte definierte Recht des Freien zur Sklaverei erlaubt dialektisch die volle Erkenntnis von Freiheit, die im feudalistischen Europa mit den abgestuften Privilegien wohl nicht so deutlich hätte zum Vorschein kommen können. Dabei darf man nicht vergessen: Die Institution Sklaverei war ein humanitärer Fortschritt, da sie den ökonomischen Anreiz geschaffen hat, von den in der Menschheitsgeschichte üblichen Massakern an Kriegsgefangenen abzusehen: Nichts anderes ist mit dem lateinischen Begriff Servus (Sklave) gemeint, der sich von servatus (errettet) ableitet.

Am fremdartigsten erscheint bei einer christlich geprägten Weltsicht die klassische Antike sicherlich im Bereich des Religiösen. Zu begreifen ist sie vielleicht mit dem Heideggerschen Begriff der Ermöglichung: Aufgabe der Menschen ist es, den das Dasein hervorbringenden Kräften die Menschengestalt zu ermöglichen, die sie mit dem Transzendenten in Dialog treten läßt. Hierzu gehört auch die Deifizierung politischer Begriffe, die schon im 4. Jahrhundert zu beobachten ist. Wahrscheinlich wurde Sokrates, klassischer Repräsentant des Rechtsintellektuellen, deshalb verurteilt, weil er die Götter Peitho (demokratische Überzeugungskraft) und Zeus, in Funktion des Demokratieschützers (Zeus Agoraios), sowie "Demokratie", die zumindest im 3. Jahrhundert als Göttin mit Staatspriesterin verehrt worden ist, nicht "als rechtmäßig anerkannt" hat. Dieser begriffliche Polytheismus ist der neuzeitlichen Zivilreligion nicht unbekannt, wo er in der Verehrung der "Werte" wie Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaat und dergleichen auftritt. In "Erinnerungsveranstaltungen" erhalten diese Begriffe dann das religiöse Pathos, das die antike politische Religiosität begreiflich macht.

Allerdings dürfte die Deifizierung etwa von "Demokratie" schon in der Antike eine Verfallserscheinung andeuten: Mit der internationalen Einbindung, die nach der Niederlage Athens im Peloponnesischen Krieg einsetzte, konnte die auf Selbstverwaltung reduzierte und einem oligarchischen Lizenzierungssystem unterworfene Demokratie immer weniger als reales Herrschaftssystem praktiziert werden. Um so mehr wurde jedoch Demokratie, noch in die römische Zeit hineinreichend, in Athen kultisch verehrt. So sollte denn auch nicht verwundern, daß aus politischen Begriffen wie Ekklesia (Volksversammlung) schließlich die "Kirche" werden konnte. Aus dem Episkopos ("Beobachter", Verfassungsschutzpräsidenten), den Athen im Attischen Seebund zur Wahrung der Demokratie in mehr oder weniger gewaltsam demokratisierten Gebieten eingesetzt hatte, wurde schließlich der Bischof der katholischen Kirche und aus den Leiturgien, den Sonderzahlungen begüterter Kreise zur Finanzierung des Staatskults etwa in Form von Tragödienaufführungen, wurde die kirchliche Liturgie. Im Niedergang der demokratischen Polis im Rahmen der Internationalisierung des von Alexander dem Großen begründeten Hellenismus wurde die ursprünglich durch politische Mitwirkung konstituierte demokratische Identität von einer anderen Identität abgelöst, nämlich dem identitätsstiftenden gemeinsamen Glauben an religiöse Dogmen, die entpolitisierend ein sehr metaphorisches "Volk Gottes" begründen sollten.

Hier erlaubt die kundige Beobachtung der antiken Klassik aktuelle Vorgänge zu begreifen, wie etwa die Tatsache, daß immer weniger von Demokratie, dafür aber sehr viel von "demokratischen Werten" die Rede ist, die mit einer polytheistischen Religiosität verehrt werden. Man arbeitet dabei an einer volklosen, den "Populismus" (Volksverbundenheit) bekämpfenden "Demokratie", die eigentlich nur in einer entpolitisierenden politischen Religion verwirklicht werden kann. Die Rezeption des antiken Mythos "Europa" als langfristig geplanter Ersatz für reale Demokratie hat sich dabei als listenreiches Konzept erwiesen. Man sollte Odysseus, den Trojabezwinger und erklärten Demokratiefeind - er wendet sich bei Homer gegen das Konzept der "Vielherrschaft", indem er auf den die Gleichheit des Rederechts fordernden Thersites einschlägt - zum Heiligen der europäischen Werteordnung erheben. Sicher werden viele auch durch den Besuch der Ausstellung von der griechischen Klassik zu begeistern sein. Die meisten Besucher dürften wohl deren Relevanz nur erahnen, der Kundige weiß, worum es trotz der scheinbaren und tatsächlichen Unterschiedlichkeit zur realen Welt der Antike für die Heutigen wirklich geht: Te de fabula narratur - Von Dir ist die Rede!

 

Bild: Marktplatz im antiken Athen, im Hintergrund die Akropolis (Holzstich nach Josef Bühlmann): Die Erfahrung des Krieges rechtfertigte die demokratische Staatsform gegenüber der Oligarchie oder Aristokratie


 
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