© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/02 13. September 2002

 

Wahlen: Auf welcher Westerwelle man surft und wie man Schröder und Stoiber nackig macht
Nieten auf Netzseiten
Erol Stern

Im letzten Jahr habe ich, wie treue Leser wissen, gelernt, wofür all die großflächigen Plakate gut sind, die wieder einmal die Straßen verschandeln. Natürlich gehe ich davon aus, daß sie auf chlorfrei gebleichtem Recyclingpapier gedruckt sind, doch trotzdem wäre mir wohler, wenn weniger Papier für derartige Zwecke verschwendet würde. Auch die Grünen buhlen auf diese Art und Weise um die Gunst der Wähler; wird also schon in Ordnung sein, genauso wie die tollen Broschüren, die immer auf den Straßen verteilt werden und garantiert bis in alle Ewigkeit aufgehoben beziehungsweise (vollständig) gelesen werden. Ungelogen, mache ich immer! Immerhin werden so Arbeitsplätze in Druckereien und Abfallwirtschaft gesichert, beschwichtige ich mich. Zudem fördert die Sichtbehinderung im Straßenverkehr die Ersatzteilnachfrage und legitimiert sich somit als Konjunkturmotor für die Autoindustrie.

Ressourcenschonender geht es da schon im Internet zu. Und in diesem Wahljahr wird dem Web ohnehin eine sehr große Bedeutung beigemessen. Da die Wahlstrategen offensichtlich glauben (Hallo naiv!), daß sich die Zahl der Stimmen proportional zum multimedialen Aufwand verhält, wurden entsprechend keine Kosten und Mühen gescheut, dem Besucher ein shopping-artiges "Entertainment" zu kredenzen, das nach allen Regeln der Kunst dem Klischee einer Spaßgesellschaft entspricht. Unter Stoiber.de kann man sich einen tollen Bildschirmschoner downloaden, Joschka.de lockt mit E-Cards, Fan-T-Shirt-Verkauf und GerhardSchroeder.de mit Doris und einem supi Newsletter. Auf PDS, REP und NPD im Weltnetz möchte ich nicht weiter eingehen. Je mehr Internetseiten ein Kandidat - die Parteien selbst und all ihre Missetaten rücken in den Hintergrund, die Personen nach amerikanischem Vorbild ins Rampenlicht - als (in Sprüchen ausgedrückte .de-Adressen) Links offeriert, desto trendiger und besser ist er also. Doch auch Nicht- und Erstwähler werden ihrer demokratischen Bedeutung entsprechend hofiert. So kann man beispielsweise unter Wahl-O-Mat.de (powered by Bundeszentrale für politische Bildung) 27 Fragen beantworten, die dann automatisch mit den Programmen der Parteien verglichen und dem teilnehmenden Surfer ausgewertet als Entscheidungshilfe präsentiert werden. Die Ergebnisse sind dabei oft erstaunlich: So scheint selbst ein Redakteur der JUNGEN FREIHEIT wohl bestens in einem PDS-regierten Deutschland aufgehoben zu sein, während ich in meinem tiefsten Innern eine SPD-Obrigkeit herbeisehne (bei beiden niemals der Fall - Ehrenwort). Alles klar!?! Ich werde dafür sorgen, daß wir am 22. September (Werwölfen gleich) eingesperrt werden, damit wir nicht beim Kreuzchen setzen (durch die Macht unseres Unterbewußtseins) ausrutschen! Um aber auch frustrierte Nichtwähler - und davon soll es ja nicht wenige geben - zum Urnengang zu bewegen, hat man sich unter DieWahlGang.de einen hochgradig aufwendig gezeichneten Comic (kleiner Scherz!) einfallen lassen, sofern man sich nicht daran stört, daß man als Wähler ein Pisser ist (oder habe ich da etwas mißverstanden?). Wesentlich unterhaltsamer finde ich den flash-animierten Striptease von Schröder und Stoiber, schade, daß Sandra Maischberger offensichtlich nur ihren Namen hergeben wollte. Doch das regelt sicher der Playboy irgendwann (wie bei Kati Witt und Iris Berben). Wo wir schon beim Thema sind: Gut, daß Angela Merkel nicht für das Bundeskanzleramt kandidiert!

Wenn ich mich in der Parteienlandschaft und ihren Stars und Sternchen umsehe, wundere ich mich, ehrlich gesagt, daß überhaupt noch jemand wählen geht. Denn wenn ich mir die Inhalte anschaue, drängt sich mir der Verdacht auf, daß es nicht darum geht, diesem Land etwas Gutes zu wollen, sondern vielmehr die Machtverteilung aufrechtzuerhalten und auszubauen.

Außerdem unterscheiden sich die Programme so sehr wie eineiige Zwillinge, da man es möglichst jedem recht machen möchte: cool weniger Steuern und Arbeitslose, krasse Bildung und mega Familienfreundlichkeit, konkrete Ausländer und uneingeschränkt solidarische Rüstungspolitik, tierische Hilfe für die Flutopfer und voll der Umweltschutz ey, mal so richtig Innere Sicherheit und ganz tuffigen Weltfrieden - Wählt mich! Da wäre es doch einfacher, in allen Medien ein einziges zentrales Wahlprogramm zu publizieren, worauf alle Parteien mit (lächelndem) Spitzenkandidaten und Logo vertreten sind, zumal es ja auch kein Rechts und Links mehr gibt, weil ja fast alle auf dem hippen Mitte-Trip sind.

Noch einfacher wäre es dann, wenn man Wahlen, der Ziehung der Lottozahlen gleich (Comeback für Maren Gilzer als Lottofee), als Tippschein aufziehen würde. Einerseits würde dann die Wahlbeteiligung steigen, weil ja jeder hofft, das tolle Haus oder den neuen Mercedes (oder doch lieber ein handsigniertes Guidomobil?) zu gewinnen. Zweitens wäre das ganze endlich mal spannend (Lindenstraße ade!) und unterhaltsam (statt "Gute Zeiten - Schlechte Zeiten"), und drittens könnte ich mir diese frustrierte Predigt an den gesunden Menschenverstand sparen! Oder das Fernsehduell würde, natürlich moderiert von Linda de Mol, Günther Jauch und/oder Thomas Gottschalk, um ein Ausschlußverfahren mit Russisch Roulette oder zumindest à la Big Brother erweitert werden.

Andererseits, und das bleibt zu hoffen, wäre es ja möglich, daß ein sehr geschätzter Günter Ogger diesen Artikel liest und sich zu einer Neuauflage seines Bestsellers "Nieten in Nadelstreifen" - gemünzt auf unsere politische Obrigkeit - inspirieren ließe.


 
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