© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/02 13. September 2002

 
Drängelei im Neuen Mittchen
Fast zum Lachen: Noch bevor der Wähler zur Wahlurne geht, ist das meiste bereits entschieden
Doris Neujahr

Zum Schluß, durch ein Donnerwort der Natur, ist der lahme Bundestagswahlkampf doch noch auf Touren gekommen. Doch egal, wer die Wahlen gewinnt, der amtierende Papp-Rambo oder Bayerns tapferes Schneiderlein, viel wird sich in der politischen Szenerie nicht ändern. Denn bevor der Wähler, dem dieser Tage geschmeichelt wird, er sei der Souverän, zur Wahlurne tritt, ist das meiste - ungefähr 80 Prozent - bereits entschieden worden. Soviel haben uns die Parteien (zum Glück noch nicht: die Partei) von unserer souveränen Entscheidung bereits abgenommen.

Das jedenfalls ist die Meinung des Verwaltungsrechtlers Hans Herbert von Arnim, der kürzlich seine Studie "Wahl ohne Auswahl" vorstellte. Da die Parteien das Monopol für die Kandidatenaufstellung besitzen, steht die Zusammensetzung des Bundestags schon so gut wie fest. Mit der Zweitstimme kann der Wähler nur die unveränderbaren Parteilisten ankreuzen. Aber auch mit der Erststimme, die der Direktkandidat erhält, hat der Bürger nur scheinbar die Wahl, weil die Verlierer häufig über die Listen abgesichert sind. Viel wichtiger als die Leistung des Kandidaten für das Gemeinwohl sind seine Fähigkeiten, sich in den berüchtigten innerparteilichen Kungelrunden durchzusetzen.

Arnim hat errechnet, daß von den 74 Abgeordneten, die Baden-Württemberg entsendet, schon jetzt 47 mit Sicherheit, weitere 12 mit großer Wahrscheinlichkeit feststehen. Hochgerechnet auf die rund 600 Abgeordneten des nächsten Bundestags ergibt das 480 Mitglieder, die sich lange vor dem Wahltag über ein errungenes Mandat freuen können. Der Wähler entscheidet nur noch über 120 Restbewerber. Die repräsentative Demokratie, so Arnim, ist "kaum mehr als ein schöner Schein".

Wir haben also am 22. September gar keine richtigen Wahlen mehr, sondern nur eine 20-Prozent-Wahl, ein "Wahlchen" sozusagen. Das ist besser als nichts und hat gegenüber echten Wahlen mancherlei Vorteile. Man denke nur an die emotionalen und intellektuellen Belastungen, die einem erspart bleiben. Wer die Wahl hat, hat bekanntlich auch die Qual. Wer nur ein "Wahlchen" hat, höchstens ein Qualchen.

Das ist, um einen Gedichtzyklus des Lyrikers Erich Fried (1921-1988) zu zitieren, "Fast zum Lachen". Der Zyklus gehört zum Gedichtband "So kam ich unter die Deutschen", der 1977, auf dem Höhepunkt der Terroristenfahndung, erschien. Die Gedichte sind Frieds Konzept der "eingreifenden Lyrik" verpflichtet, das heißt, er hat sie als unmittelbare Reaktionen auf politische Ereignisse verfaßt. Dabei sind überwiegend zu Zeilchen zerhackte Polemiken entstanden, die mit dem Verblassen der Ereignisse, auf die sie sich beziehen, unverständlich geworden sind. Aber manchmal glänzen unter dem vergänglichen Kunstgewerbe echte Perlen auf, Gedichte, die allgemeingültige Erfahrungsmuster formulieren. Zu ihnen gehört das Gedicht "SPDchen und CDUchen". Wer bereit ist zu kreativer und kritischer Lektüre, wird zu dem Schluß kommen, daß diese Verse auch den heutigen Tag und das aktuelle Elend des Stillstands genau bezeichnen.

Die beiden ersten Strophen lauten: "SPDchen und CDUchen / im Kalten Kriegchen / fanden sie zueinander / wie Heilchen und Siegchen. // Sie erzogen ihre Söhnchen / (und Töchter) gegen Revolutiönchen / und nannten das DDRchen / jahrzehntelang nichts als Zönchen." Nun ist die relative Standfestigkeit gegenüber der DDR nicht das schlechteste Erbteil der alten Bundesrepublik. Trotzdem ist ein Schadensbericht angebracht, denn die Fixierung auf den äußeren Feind hat zu einem Konformitätsdruck nach innen geführt, der die deutsche Gesellschaft bis heute prägt.

Fried bezieht sich auf den Ausspruch Herbert Wehners 1960 im Bundestag, das geteilte Deutschland könne keine unheilbar zerstrittenen Christ- und Sozialdemokraten vertragen. Der damals verkündete politische Burgfriede, später populär geworden unter dem Titel "Konsens der Demokraten", wurde zu einem Vorhang, hinter dem die Parteien sich den Staat untertan machten und Veränderungen sogar noch blockierten, als die DDR längst verschwunden war. Das ganze reformbedürftige Paragraphengerümpel, angefangen bei den Ladenöffnungszeiten über die Parteienfinanzierungs- und Medienkontroll- bis zu den Asylgesetzen, wurde dem beigetretenen Teil Deutschlands übergestülpt, aus Furcht, es könnten sonst Pfründe verlorengehen, die man sich bei der heroischen Selbstbehauptung der Demokratie erworben hatte.

"SPDchen und CDUchen/ schlossen ein Wettchen:/ Wer kann das Staatchen besser / vor linken Feindchen errettchen?" Heute müßte es natürlich heißen: "vor rechten Feindchen", und auch die Drängelei in das "demokratische Mittchen" müßte erwähnt werden. Fried sah damals die "Rechten", das heißt CDU/CSU, in der propagandistischen Offensive, während sie gesellschaftspolitisch doch längst abgedankt hatten. Seine Beobachtung aber, daß es statt der produktiven Reibung zwischen unterschiedlichen Konzepten nur eine fade Konsenssoße gibt, ist nach wie vor richtig. Diese Soße hat freilich mehr linke als rechte Beimischungen. Der Burgfrieden hat den Rechten - um bei diesen plakativen Begriffen zu bleiben - mehr als den Liberalen und Linken geschadet.

Der idealtypische Rechte glaubt an Institutionen und Autoritäten als Ausdruck einer unvergänglichen höheren Ordnung. Da er sich für den einzigen hält, der diese zu würdigen weiß, betrachtet er sich als ihren einzig wahren Sachwalter. Als Verkünder der Autorität nimmt er eine autoritäre Haltung ein, die ihn unflexibel macht. Der moderne Linke hingegen bekennt offen, daß für ihn die Institutionen vor allem Machtinstrumente sind. In Zeiten, in denen die "Großen Erzählungen" zerfallen, aus denen die Autoritäten sich gespeist haben, befindet er sich im Vorteil. Sein instrumentelles Staatsverständnis macht es ihm leicht, auch diejenigen Institutionen, die er eben noch attackiert hat, ohne Skrupel zu vereinnahmen. Die antiautoritäre Liebe zum Inlandsgeheimdienst ist deshalb wenig überraschend. Der übertölpelte Rechte kann da nur fassungslos ausrufen: "Aber, lieber Verfassungsschutz - wir sind doch die Guten, nicht die!" Der so domestizierte Rechte, in der historischen Defensive befindlich, gefangen im selbstgebastelten Konsensmodell und ohne frische Gedanken über den Staat und eine politische Synthese aus Dynamik und Beständigkeit, hat heute nur noch den Wunsch, sich mit der ihrerseits saturierten Linken die Staatsbeute zu teilen. Das ist die deutsche Variante des "Weder rechts noch links"!

Hin und wieder gab - und gibt - es Störenfriede. Was macht man mit denen? Fried reimt militant: "SPDchen und CDUchen -/ empfinden sie nicht gar Genüßchen / über manches dem Ruhchen / und Ordnungchen dienenden Schüßchen?" Die Strophe hat eine Vorgeschichte. Am 4. Dezember 1971 war der 24jährige Student Georg von Rauch, ein Anarchist und Aktivist der "Bewegung 2. Juni", bei einer Terroristenfahndung in Berlin von der Polizei erschossen worden. Das Gerücht ging um, er sei unbewaffnet gewesen und in den Rücken getroffen worden. Daraufhin schrieb Fried im Januar 1972 in einem Leserbrief an den Spiegel von einem "Vorbeugemord", was ihm eine Beleidigungsklage des Polizeipräsidenten einbrachte.

Inzwischen räumt auch der "Freundeskreis Georg von Rauch" ein, daß von Rauch als erster geschossen hat. Mögen Frieds Verse in diesem konkreten Fall auch fehlgehen, die finale Bedrohung des Häretikers durch die Apparate benennen sie allemal. Man möchte beispielsweise endlich erfahren, wer wem mit der Erschießung Pim Fortuyns vorgebeugt hat.

"SPDchen und CDUchen / verkündigen so ohne Fehlchen / die Ordnungssehnsüchtchen / zahlloser kerndeutscher Wählerseelchen. // Im Vereinchen mit CSUchen und FDPchen / machen sie als Autoritärchen / aus ihrem Teil Deutschlands / ein neues Wintermärchen." Eingefügt werden müssen noch "Grünchen" und "PDSchen". Das Wort "kerndeutsch", wie es hier konnotiert ist, stammt aus dem Antifa-Repertoire, dennoch trifft es ganz richtig die infantil-autoritäre Grundhaltung der Deutschen zur Politik, die sich auch unter demokratischen Verhältnissen fortgeschrieben hat. Wie könnte es sonst sein, daß kaum ein öffentliches Interesse an der Klärung der -zig Millionen schweren Leuna-Affäre laut wird, obwohl es doch um Aktenvernichtung auf höchster Ebene, um doppelte Buchführung, Geheimgeschäfte, um den Verdacht der Käuflichkeit politischer Entscheidungen usw. usf., also um die Entkernung des demokratischen Gehäuses geht? Früher wurde der Untertan mit machtgeschützter Innerlichkeit entschädigt, heute mit dem Sozialstaat.

"SPDchen und CDUchen / stehn vielleicht bald auf Duchen und Duchen / und lehren die Bürgerchen kriechen / in ihrem Demokratiechen". Das prophezeite "auf Duchen und Duchen" hat sich voll erfüllt. Was kann der vielgepriesene "mündige Bürger" angesichts solcher Alternativlosigkeit da mehr sein "als ein schöner Schein"?

Ein paar Seiten vorher findet sich das Gedicht "Zur Kenntlichkeit". Der Dichter fragt - wen eigentlich? -: "Ist eine Demokratie / in der man nicht sagen darf / daß sie keine wirkliche Demokratie ist / wirklich eine wirkliche Demokratie?" Warum, möchte man fortfahren, wird so eine Frage so selten gestellt? Liegt es tatsächlich an der vernünftigen - oder zynischen - Einsicht der Mehrheit, daß Ideal und Wirklichkeit niemals deckungsgleich sein können, oder fürchten die verhinderten Fragesteller, wie Fried annahm, die Folgen? Unter der Überschrift "Erklärung einer behördlichen Erklärung" heißt es: "'Die Folgen hat sich / der Häftling / nur selbst zuzuschreiben' (...) Daß jemand / sich etwas / nur selber zuzuschreiben habe / schreiben ihm / immer / nur die anderen zu". Das ist fast zum Lachen, knapp zwei Wochen vor der Wahl. Aber eben nur fast.

Die Gedichte wurden entnommen: Erich Fried: "Gesammelte Werke". Hg. v. Volker Kaukoreit und Klaus Wagenbach. Bd. 2. Verlag Klaus Wagenbach. Berlin 1993/98


 
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