© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/02 13. September 2002

 
Pankraz,
Bertolt Brecht und die Wahl als Superspiel

Viele seriöse Politikbeobachter sagen, daß sich durch die bevorstehende Bundestagswahl nichts ändern werde, einerlei welcher der Kandidaten das Rennen mache. Die herrschenden Kräfte seien einander so ähnlich, und sie seien so sicher gegen potentielle Newcomer abgeschottet, daß es völlig illusorisch sei, auf Remedur zu hoffen. Der alte Trott gehe auf jeden Fall weiter, und er führe immer tiefer in die Scheiße.

Wenn das wirklich so ist, wird der Blick frei für metapolitische, spieltheoretische Strukturen. Ein Spiel folgt festen Regeln, doch es verfehlt seinen Sinn, wenn diese Regeln nicht ausgeschöpft werden, wenn statt dessen immer wieder die gleichen Konstellationen abgespult werden, etwa beim Skat immer wieder nur Grand mit Vieren oder Nullouvert. Dann verdrücken sich sowohl Spieler von einigem Ehrgeiz als auch Zuschauer, und am Spieltisch bleiben die Nulpen unter sich.

Wenn also in der Politik darüber Klarheit herrscht, daß alles im gewohnten Trott weitergeht, dann will man doch wenigstens die formalen Regeln ausgeschöpft sehen. Inhaltlicher Gleichklang ist nur erträglich, wenn es im Formalen regelmäßig Abwechslung gibt, ein Spiel der Wellen, eine Variation der Farben. Da man auf inhaltliche Alternativen keine Rücksicht mehr zu nehmen braucht, wird der Wechsel der Physiognomien, der Kostüme und der Sprechblasen umso wichtiger.

Besonders die beobachtende Jugend, die gern neue Eindrücke sammelt und deren "Politikverdrossenheit" bzw. "Politikgleichgültigkeit" bekanntlich zum Himmel stinkt, giert nach formaler Abwechslung. Sie, die noch nicht genau ermessen kann, was es heißt, an der Futterkrippe zu sitzen, hat nur wenig Verständnis für die Ängste von Hinterbänklern, die ihre "Lebensplanung" auf zu erwartende Abgeordnetendiäten oder Ministerialgehälter abgestellt haben. Ihr macht es einfach Spaß zuzusehen, wenn kurrente Mandatsträger - hoppla! - über die Klinge von Wahlergebnissen springen und in der Kiste der Anonymität verschwinden.

Und fast noch interessanter findet sie es zu besichtigen, was mit den vorderen Chargen und Großbakschischeinnehmern passiert, wenn die das Ergebnis verfehlen. Wird Gerhard Schröder dann Vizechef bei VW in Wolfsburg? Geht Joschka Fischer als Nachfolger von Prodi nach Brüssel und heiratet vorher kurz noch Madeleine Albright? Übernimmt Franz Müntefering die Chefredaktion der Bild-Zeitung, Frau Künast den Öko-Hof von Baldur Springmann?

Doch auch die neu antretende Riege ließe Unterhaltsames erwarten. Es tauchten ja nicht nur Gespenster von anno dunnemals wieder auf, Rühe als Soldatenschreck, Seehofer als Ärzteschreck, es gäbe auch einige bis heute noch weitgehend unerkannte Debütanten für Schleiertänze, genauer: Entschleierungstänze: Frau Reiche, Frau Schavan, Guido Westerwelle. Der neue Kanzler könnte brillieren mit kernigen Festreden zur Eröffnung multikultureller Festivitäten oder Gay-Paraden, sein Innenminister Beckstein beim Ausdenken neuartiger V-Mann-Einsätze im "Kampf gegen Rechts".

Abwechslung schließlich auch im geistigen Leben der Nation. Zwar gäbe es dort kaum Personal- oder Kostümwechsel, aber das alte Spiel "Dort ihr, die Mächtigen - hier wir, die Kritischen" würde neu geölt und käme verstärkt wieder in Fahrt. Unter Schröder gab es mancherlei Beißhemmungen, man erinnerte sich gemeinsamer 68er-Tage und verkniff sich dieses und jenes. Jetzt könnte man wieder voll loslegen, ohne das Geringste für sich und die Seinen dabei zu riskieren. Denn die "neuen Mächtigen" würden begeistert mitspielen, würden mit ihren Kritikern gemeinsam der "political correctness" huldigen und ihnen wie eh und je Preise für "Zivilcourage" um den Hals hängen.

Etwas wirklich Gutes hätte der Wechsel auch. Der Umstand, daß er zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik bereits nach einer einzigen Legislaturperiode stattfände (und dennoch keinerlei reelle Folgen hätte), würde den Appetit auf schnellen Wechsel, auf neue Gesichter, Trachten und Inszenierungen schon nach vier Jahren, ungemein steigern und vielleicht bewirken, daß solch knappe Terminierung künftig richtig üblich wird, sich als ungeschriebenes Verfassungsgebot im Bewußtsein der Wähler festsetzt.

Damit wäre dann doch eine neuartige inhaltliche Dimension gewonnen. Regierungen und Koalitionen, die wissen, daß sie nur vier Jahre, nur eine einzige Legislaturperiode lang, am Ruder bleiben, weil das spielende, auf Abwechslung erpichte Publikum es so will, werden mutiger. Sie wissen, daß sie bei der nächsten Wahl sowieso verlieren werden, also buchstäblich nichts zu verlieren haben; so können sie ungeniert das Notwendige tun, um den Weg in die Scheiße (den ja letztlich niemand gehen will) zu verlegen, brauchen keine für das Ganze schädlichen "Wohltaten" mehr zu verteilen, brauchen nicht mehr so zu tun, als seien sie die absoluten Herren über die wirtschaftlichen Gegebenheiten, können dem Geheul der Kritiker widerstehen.

Das Ganze liefe auf eine Art Präsidialisierung der Parteiendemokratie hinaus. So wie in vielen Systemen die Amtszeiten von Präsidenten begrenzt sind, so würde de facto die "Amtszeit", die Legislaturzeit von Parteikoalitionen begrenzt, und zwar - Höhepunkt der Eleganz und der Ironie - nicht durch ausdrücklichen Verfassungsspruch, sondern einfach weil der Wähler angesichts der Versteinerung der politischen Verhältnisse inhaltlich resigniert hat und nur noch einem formalen, ästhetischen, spielerischen Vergnügen nach Abwechslung frönt.

Er weiß, daß er nichts ändern kann, daß alles so bleibt, wie es schlimmerweise ist; so fängt er an zu spielen - und verändert gerade dadurch die Verhältnisse. Das wäre dann also die Ankunft dessen, wovon notorische Theaterhasen wie Brecht immer träumten: Weltveränderndes Spiel unter Einbeziehung des Publikums.


 
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