© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    37/02 06. September 2002

 
CD: Jazz
Fraktales
Michael Wiesberg

Zwei neue Einspielungen des kleinen, aber feinen Starnberger Musikverlages Tutu-Records sind anzuzeigen. Da ist zum einen das Quintett-Album der Marty Cook "Fractal Gumbo" (Tutu 888 210). Die "Fractal Gumbo", das sind der Posaunist Marty Cook, die Gitarristen Geoff Goodman und Gunnar Geisse sowie der Bassist Ed Schuller und der Schlagzeuger Peter Perfido. Diese Besetzung ist neu. Ursprünglich arbeitete Cook nur mit den beiden Gitarristen Goodman und Geisse.

Der Begriff "Gumbo" bedeutet eine Mahlzeit aus der kreolischen Küche. Der erste Teil des Bandnamens aber ist der Chaostheorie entlehnt, der sogenannten "Fraktalgeometrie". Dieser Begriff geht auf den Mathematiker und Chaosforscher Benoît Mandelbrot zurück. Dieser versteht unter Fraktalen geometrische Formen, die das Chaos als stochastisches Verhalten in einem geschlossenen System abbilden. Die Musiker deuten Fraktale ungleich poetischer: sie sprechen von "Daumenabdrücken Gottes". Entsprechend ist auf dem Album ein exotisches, mathematisch aufgeladenes Menü zu hören. Für dieses Menü zeichnet vor allem Gunnar Geisse verantwortlich. In einer Genesungsphase nach einem Unfall betrieb er autodidaktische Studien über die Zusammenhänge von Musik, Philosophie, Biologie, Astronomie, Physik und Mathematik. Das Ergebnis ist ein spannungsreiches Album, das immer wieder überraschende Wendungen nimmt.

Dies gilt auch für das zweite Tutu-Album "Witchi-Tai-To" (Tutu 888 204), das, um es gleich vorweg zu sagen, nichts mit dem bekannten Album des norwegischen Saxophonisten Jan Gabarek zu tun hat. Verantwortlich für dieses Album zeichnet Jim Pepper, der immer wieder auf Tutu-Einspielungen zu hören ist. Pepper, ein US-amerikanischer Saxophonist mit indianischen Wurzeln, nimmt den Hörer auf eine 120 Minuten lange sprituelle Reise. "Witchi-Tai-To" ist ein in jeder Beziehung aufwendiges Album, und zwar nicht nur wegen seines kunstvollen Umschlages oder seines 24seitigen Beiheftes, sondern vor allem wegen der Arrangements von Gunther Schuller, der das WDR Radio Orchester dirigierte. Schuller gelang es, Lieder der Indianer und deren Rhythmen, Strukturen und Tonalität des Jazz sowie die moderne europäische Klassik unter einen Hut zu bekommen. Schon deshalb ist diese Einspielung hörenswert.

Zusätzliche Authentizität bekommt "Witchi-Tai-To" durch amerikanisch-indianische Sänger und Perkussionisten. Jim Pepper, dessen indianischer Name Hunga-Chee-A-Dah (dt. "Der fliegende Adler") heißt, tritt im übrigen auf den Stücken " A Pepper Poem" und "Legacy of the Flying Eagle" auch als Vokalist in Erscheinung.

"Hier agieren vier Individualisten, die bei aller Virtuosität ihr Ohrenmerk vor allem auf einen gemeinsam gestalteten, homogenen Bandsound richten. Das Quartett vereint bruchlos Tradition und zeitgenössische Ausdrucksformen und es bleibt dabei verblüffend unverkrampft auf dem ästhetischen Nährboden des alten Kontinents." So kommentierte der Jazzkritiker Karsten Mützelfeldt die Musik des Peter-Materna-Quartetts. Der Saxophonist Peter Materna hat sich nach mittlerweile vier CDs inzwischen den Ruf als größten Geheimtipp des kammermusikalisch orientierten Jazz in Deutschland erspielt. Seit 14 Jahren arbeitet der Bonner Saxophonist konsequent mit seinem Quartett (Martin Scholz: Piano, Michael Gerards: Bass, Benny Mokross: Schlagzeug) an der Entwicklung eines eigenen Klang- und Kompositionsideals. Letzter Ausdruck ist die Scheibe "Moon Party" (Vertrieb ZYX Music Merenburg), die einmal mehr dokumentiert, daß nicht nur die Musiker, die bei dem Münchner Musikverlag ECM unter Vertrag stehen, eine genuin europäische Antwort auf den US-amerikanischen Jazz zu geben in der Lage sind.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen