© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    37/02 06. September 2002

 
"Selbstbetrug eines Ausweglosen"

Immanuel Wallerstein über George W. Bush und den Angriff auf den Irak als Fanal eines neuen US-Imperialismus
Moritz Schwarz

Herr Professor Wallerstein, Sie sagen - selbst bei einem militärischen Erfolg - die politische Niederlage der USA durch einen zweiten Feldzug gegen den Irak voraus. Wieso?

Wallerstein: Weil dieser Krieg zu schweren Erschütterungen in der arabischen Welt führen wird, aber vor allem, weil die Reaktion der übrigen Welt auf einen Sieg der amerikanischen Truppen im Irak die blanke Furcht sein würde: Furcht vor einem Giganten, der sich alles erlauben kann. Aber bevor es soweit kommt, werden zunächst die USA selbst in eine Krise geraten.

Nämlich?

Wallerstein: Es sind vor allem die politischen Berater Präsident Bushs, die so siegessicher sind. Die militärischen Berater dagegen sind sehr zögerlich, was einen Angriff auf den Irak angeht. Denn sie sind sich der zu erwartenden politischen Folgen eines Angriffes bewußt. Kritisch könnten sich nicht nur die Verschlechterung der Beziehungen zum Bündnispartner Europa entwickeln, sondern vor allem die möglichen innenpolitischen Konsequenzen.

Inwiefern?

Wallerstein: Sie fürchten einen Vietnam-Effekt: Wenn wir eine nennenswerte Anzahl an Soldatenleben im Irak verlieren, dann verliert der Krieg den Rückhalt im Volk.

Ihre These ist, Präsident Bush habe sich selbst in eine ausweglose Situation manövriert?

Wallerstein: Macht der Präsident politisch einen Schritt zurück, dann endet es für ihn in einer politischen Katastrophe, macht er aber einen militärischen Schritt nach vorne, endet es erst recht in einer Katastrophe - und zwar für uns alle. Er hat eine Situation geschaffen, in der er verliert, was immer er auch unternimmt. In solch einer Situation neigt man dazu, die Flucht nach vorn anzutreten: Man entscheidet anzugreifen und hofft, daß sich durch diesen Schritt doch noch eine Perspektive eröffnet. Es ist der Selbstbetrug eines Ausweglosen. Uns alle aber reißt er, bei dem Versuch sich selbst zu retten, mit in den Untergang.

Sie selbst halten einen militärischen Sieg für möglich, warum also konkret sollte der Feldzug in eine Katastrophe münden?

Wallerstein: Der Feldzug zum Sturz Saddam Husseins wird sich sehr lange hinziehen und viele amerikanische Leben kosten. Die Amerikaner sind sich dessen nicht bewußt. Für sie ist die Angelegenheit derzeit eine Frage des Patriotismus. Man stellt sich den Krieg gegen den Irak so vor, wie den Krieg in Afghanistan. Sobald die Amerikaner aber realisieren, daß der Feldzug so nicht ablaufen wird und der Krieg einen unkontrollierbaren Verlauf nimmt, wird die Stimmung im Volk umschlagen. Die derzeitigen Umfrageergebnisse offenbaren zwar eine Mehrheit für einen Angriff, aber ich glaube nicht einmal Präsident Bush mißt dem allzuviel Bedeutung. Denn diese Umfrageergebnisse drücken keine durchdachte und deshalb verläßliche politische Überzeugung der befragten Bürger aus, sondern lediglich ihren Wunsch, als gute Patrioten ein vaterländisches Signal zu geben. Aber aus der patriotischen Begeisterung wird es ein böses Erwachen geben.

War die Situation, in der sich die amerikanische Regierung heute befindet, angesichts der Ereignisse vom 11. September 2001 überhaupt vermeidbar?

Wallerstein: Aber natürlich, denn es gibt bis heute keinerlei Verbindung zwischen dem, was Osama bin Laden getan hat und dem irakischen Diktator Saddam Hussein. In den jüngst aufgetauchten al-Qaida-Videos nennt Bin Laden Hussein sogar einen "schlechten Moslem". Nein, der wahre Grund für die "Notwendigkeit" eines Angriffs auf den Irak ist, daß die Falken in der Bush-Administration in der fadenscheinigen Reihung "Bin Laden - Hussein" die Möglichkeit sehen, die Politik zu verfolgen, die sie zu verfolgen wünschen, die sie aber vor dem 11. September 2001 nicht verfolgen konnten.

Das heißt, Bush ist ein Opfer seiner Berater, die ihn in eine für ihn ausweglose Situation gebracht haben?

Wallerstein: Leider ist Präsident Bush kein geistreicher Analyst der Geopolitik. Er versteht es zwar erfolgreich, in der politischen Szene der USA zu manövrieren - sonst wäre er auch nicht Präsident geworden -, aber diese Fähigkeit reicht nicht aus, eine Nation wie die Vereinigten Staaten von Amerika zu führen.

Ist sich Präsident Bush des von Ihnen unterstellten Fehlers bewußt, oder glaubt er an den von ihm eingeschlagenen Weg?

Wallerstein: Da bin ich mir nicht sicher, aber ich halte ihn nicht für die Sorte Mensch, die sich selbst eingesteht, daß sie einen Fehler gemacht hat.

Inwiefern stellt der Irak denn tatsächlich eine Bedrohung dar, wie von den USA behauptet?

Wallerstein: Das Saddam Hussein eine sehr unerfreuliche Erscheinung und ein schlimmer Diktator ist, darüber besteht Einigkeit. Die Frage aber ist, wird er in der Zukunft uns oder seine Nachbarn in irgendeiner Form angreifen? - Natürlich betreibt er den panarabischen Nationalismus, der gegen den Westen gerichtet ist. Aber plant er einen konkreten Angriff? Nein, Saddam Hussein stellt keine akute Bedrohung für die USA dar. Wird er Massenvernichtungswaffen entwickeln, wenn er dazu die Möglichkeit hat? Natürlich wird er das tun. Aber beinahe jeder Staat tut das. Bekanntlich verfügt auch Israel über Massenvernichtungswaffen, uns interessiert aber nicht, was die arabische Welt darüber denkt. Hussein tut nichts anderes, als andere Staatschefs in dieser Region auch, deshalb sind die US-Argumente gegen ihn auch nicht wirklich überzeugend.

Wie soll sich aber ein Land wie die USA verhalten, das befürchtet, daß die Waffen, die da entwickelt werden, eines Tages auch gegen das eigene Volk eingesetzt werden. Ist es denn zumutbar, den Erstschlag abwarten zu müssen?

Wallerstein: Das ist eine berechtigte Frage, nur trifft das Szenario nicht zu. Denn es droht von seiten des Irak keine Gefahr für das amerikanische Volk. Hussein verfügt gar nicht über die Mittel, um mit eventuellen Massenvernichtungswaffen den amerikanischen Kontinent zu erreichen. Seine Nachbarn kann er damit bedrohen, aber nicht die USA.

Nach Ihrer These hängt der wahre Grund für den geplanten Krieg gegen den Irak mit dem Niedergang der weltweiten amerikanischen Hegemonialstellung zusammen.

Wallerstein: Der Stern der US-Hegemonie ist in der Tat dabei zu sinken. Die Falken waren 1992 - als die USA den Irak zwar besiegten, aber Saddam Hussein nicht stürzten - enorm enttäuscht, daß es der größten Militärmacht der Geschichte nicht gelungen war, den Staatschef einer arabischen Mittelmacht zu entmachten. Diese Leute waren von der Politik George Bushs sen. sehr enttäuscht, nun hoffen sie, unter seinem Sohn Genugtuung zu bekommen. Man hofft, den Niedergang mit dieser Machtdemonstration aufzuhalten. Aber der verhängnisvolle Ausgang dieses Krieges wird diesen Prozeß nur noch weiter beschleunigen. Dieser Krieg wird die arabische Welt erschüttern, er wird Amerika erschüttern, und er wird die Abspaltung Europas von den USA beschleunigen.

Die Europäer werden den USA vielleicht nicht in den Irak folgen, aber andererseits wird dessen Zerstörung und Eroberung sicherlich keine Zwietracht zwischen Europa und Amerika säen.

Wallerstein: Kennzeichnend für das gespannte Verhältnis zwischen Europa und den USA ist der Streit um den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Denn dieser Streit stellt nicht nur eine Meinungsverschiedenheit dar, für Europa ist das Problem längst zu einer Frage der politischen Selbstbehauptung geworden. Und ich würde nicht einmal die Hand dafür ins Feuer legen, daß die Nato auch in Zukunft existiert.

Klingt das nicht unrealistisch, schon deshalb, weil die Europäer für einen Nato-Austritt wohl nicht den Mut aufbringen, dann müßten sie nämlich selbst Verantwortung übernehmen.

Wallerstein: Das mag sein, wenn sie aber das innere Verhältnis betrachten, stellen sie eine Erosion fest, auch auf seiten der USA. In der Vergangenheit mußte man sich für eine Meinung, die den Menschen hier nicht als patriotisch erschien, oftmals den Spruch "Geh' doch rüber nach Moskau!" anhören. Heute - und ich habe das selbst erlebt - kriegt man ein "Geh' doch rüber nach Europa!" um die Ohren gehauen. Die Europäer gelten als Weichlinge und Sozialisten und vor allem: Sie stehen angeblich nicht wirklich auf unserer Seite.

Wie kam es zum Niedergang der US-amerikanischen Hegemonialstellung, wie Sie behaupten?

Wallerstein: Die Vormachtstellung der USA beruhte seit Ende des Zweiten Weltkrieges auf ihrer totalen wirtschaftlichen Überlegenheit. Inzwischen aber erweisen sich die europäischen Staaten oder auch Japan allerdings als ebenbürtig, das relativiert natürlich unsere Position. Die Falken aber betrachten den Abstieg als eine Folge der zurückhaltenden US-Außenpolitik der letzten Jahre und sie glauben, durch ein Herumreißen des außenpolitischen Ruders, diesen Abstieg aufhalten zu können. Der Krieg gegen den Irak erscheint ihnen dazu der erste Schritt in die richtige Richtung zu sein.

Der "erste Schritt"?

Wallerstein: Ja, bis vor etwa einem Jahr war das Wort "Imperialismus" bei uns noch ein schmutziges Wort, das man als Außenpolitiker für gewöhnlich nicht in den Mund nahm. Und wer immer den USA Imperialismus vorwarf, dem widersprachen die US-Politiker auf das Schärfste. Im vergangenen Jahr aber haben wir aus dem Munde zahlloser Politiker, Journalisten und Intellektueller das Konzept der USA als imperialer Macht vernommen.

Haben diese Leute ihre Meinung bezüglich des Imperialismus geändert oder haben sie "die Maske fallen" gelassen?

Wallerstein: Einige von ihnen haben in der Tat die Maske fallen lassen, andere haben ihre Meinung geändert und wieder andere sind Opportunisten und richten sich einfach nach dem neuen patriotischen Trend.

Unter "Imperialismus" versteht man gemeinhin ein politisches Konzept aus dem 19. Jahrhundert. Was ist heute damit gemeint?

Wallerstein: Gemeint ist, daß die USA eine Art Weltführungsrolle übernehmen wollen: Sie bestimmen alle wichtigen Entscheidungen für die künftigen globalen Verhältnisse auf unserem Planeten. Es kommen dabei verschiedene Motivationen zusammen: Der Wunsch, die Macht der USA auszudehnen, die Annahme, die Verteidigung der Vereinigten Staaten von Amerika beginne schon auf anderen Kontinenten und die sendungsbewußte Überzeugung, Hüter der Zivilisation, Verteidiger der Demokratie und Bringer der Freiheit zu sein. Natürlich geht es aber tatsächlich nicht im Geringsten um Demokratie, sondern lediglich um eine Legitimation für den neuen Imperialismus der USA.

Wie reagiert die amerikanische Öffentlichkeit auf diese neuen Töne?

Wallerstein: Die etablierte Presse bei uns ist darüber natürlich bestürzt. Sie hat weitgehend noch den Anspruch, wir sollten faire Politik betreiben und uns für Multilateralismus einsetzen.

Sie machen den amerikanischen Nationalismus für den neuen amerikanischen Imperialismus verantwortlich. Tatsächlich aber insistiert gerade ein überzeugter Patriot wie Pat Buchanan immer wieder darauf, die USA seien "eine Republik, kein Imperium".

Wallerstein: In der Tat ist es erstaunlich, daß die einzigen, die den Mut haben, den amerikanischen Präsidenten ob seiner derzeitigen Politik anzugreifen, nicht die oppositionellen Demokraten, sondern einige einzelne republikanische Abgeordnete sind. Grundsätzlich aber hat der Nationalismus in den Vereinigten Staaten schon immer changiert: Nämlich zwischen dem Isolationismus einer "Festung Amerika" und einem imperialen Militarismus. Pat Buchanan ist eine Persönlichkeit, die sicherlich sehr authentisch ist und die eine feste Position hat. Aber die meisten amerikanischen Nationalisten sind flexibler als er und wechseln hin und her. Und derzeit stärken sie das imperialistische Lager.

Der deutsche Außenminister Joseph Fischer verkündete nach dem 11. September 2001 den Deutschen, wir hätten Amerika jetzt nicht zu kritisieren. Wie bewerten Sie die europäischen Außenpolitiker?

Wallerstein: Die europäischen Politiker, wie auch die Demokraten in den USA, fürchten in den Augen der Öffentlichkeit zu weit zu gehen und als unpatriotisch dargestellt zu werden. In Europa lautet der Vorwurf nicht "unpatriotisch", sondern "antiamerikanisch"; er erfüllt aber dieselbe Funktion, er soll die Kritiker auf die Seite des Feindes drängen. Das aber ist es, worauf die Falken zählen: Wenn sie nur genug Druck auf diese Leute ausüben, gelingt es, sie einzuschüchtern.

Das heißt, Sie werfen den Europäern vor, zu wenig Selbstbewußtsein zu haben?

Wallerstein: Ja, genauso wie die amerikanischen Demokraten. Und das geht so weit, daß sie sich schließlich sogar fürchten, überhaupt eine politische Entscheidung zu treffen. Auch da sind die US-Falken ihnen überlegen, die haben nämlich einen Plan. Zwar einen schlechten, aber sie haben einen Plan! Schon diese Tatsache schüchtert die Europäer ein: Sie hoffen, die selbstsicheren Amerikaner werden es schon richten.

Sie sagen für den Irak-Feldzug den Einsatz von Atomwaffen voraus. Warum sollte es zu diesem letzten Mittel kommen?

Wallerstein: Unsere Truppen werden schließlich, wie gesagt, militärisch in Schwierigkeiten geraten. Da hinter dem Irak aber keine abschreckende Atommacht, wie einst hinter Nordvietnam die Sowjetunion und die Volksrepublik China, steht, wird es - von welchem Staat aus weiß ich nicht - zum Einsatz von Atomwaffen kommen. Doch das ist noch nicht einmal das Schlimmste. Das Schlimmste ist, daß dies eine neue Epoche einleiten wird, eine Epoche der Legitimität des Einsatzes von Kernwaffen. Dieser Krieg wird politisch und moralisch den Weg ebnen für eine neue Stufe der Eskalation militärischer Gewalt in der internationalen Auseinandersetzung.

 

Prof. Dr. Immanuel Wallerstein gilt als einer der profiliertesten Kritiker der derzeitigen amerikanischen Regierungspolitik. Der 1930 in New York geborene Soziologe lehrt heute an der Universität von Yale. Die von ihm entwickelte World-Systems-Theory gilt als Hauptkonkurrent der Modernisierungstheorie und als eine Alternative zu gängigen Globalisierungstheorien.

 

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