© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/02 30. August 2002

 
Urbilder lösen Ängste aus
Kulturelle Identitäten: Bei deutschen Frauen ist das Tragen von Kopftüchern aus der Mode gekommen
Achim T. Volz

Jüngst beschied das Bundesverwaltungsgericht das Ansinnen einer moslemischen Lehrerin negativ, ihren Unterricht mit einem dunklen Kopftuch bedeckt abzuhalten. Dies ereignete sich in Baden-Württemberg unter Kultusministerin Annette Schavan (CDU) sowie dem beifälligen Nicken aller politisch-gesellschaftlichen Kräfte.

Die "Werteordnung" der Bundesrepublik Deutschland sei die eines "weltanschaulich neutralen" Staatswesens, so der Tenor, und könne aufgrunddessen "Extremistisches" nicht zulassen. Vom dunklen Kopftuch lasse sich auf den weltanschaulich-religiösen Hintergrund seiner Trägerin schließen und der stehe innerhalb einer "fundamentalistischen" Auslegung des Islam. Eine solche aber widerspräche theoretisch wie praktisch dem Toleranzgebot unserer Gesellschaft, der qua Grundgesetz die individuellen Freiheitsrechte "über alles" gehen.

Freilich gab es Zeiten, in denen die kulturelle Homogenisierung "der Gesellschaft" noch nicht so total war wie es in Deutschland heute der Fall ist. Auf Heimatfesten, in katholischen Kirchen und in geographischen Randzonen, im Winkelhaften findet man es noch - das corpus delicti, das nicht bloß als Wetterschutz gemeinte Kopftuch. Die bürokratisch aufgeklärte Moderne "des Westens" rückte ihm zu Leibe, wie schon der landesgebundenen Tracht, der korporativen Standeskleidung und dem aristokratischen Repräsentationsprunk. Auch hierin stets mehr Herrschaftsvernunft als Vernunftherrschaft.

Dem von Carl Schmitt verehrten Johann Arnold Kanne verdanken wir die Sentenz "Die Sprache weiß es noch"; wir folgen ihr und entdecken in Friedrich Kluges etymologischem Wörterbuch unter "Weib" Überraschendes: Die Alten bildeten dieses Wort aus dem Bedeutungsfeld von "drehen", "umwinden", abgeleitet vom altnordischen "veifa", denn "Frauen waren mit leinenem Kopfputz geschmückt. Verhüllt wird bei den europäischen Indogermanen die Braut, zur Verheirateten gehört das Kopftuch." Dies blieb so bis zu den Bilder- und Formenstürmereien des 20. Jahrhunderts, den egalitaristischen Zwangsabstraktionen und formenfeindlichen Traditionsbrüchen im Gefolge dessen, was Max Weber "das stählerne Gehäuse des okzidentalen Rationalismus" nannte.

Nun sind es die Einwanderer aus dem islamischen Kulturkreis, die ihre Formen und Zeichen in den warenförmig ausstaffierten "modischen" Wirbeln des westlichen Konsumismus bewahren möchten. Einheimische Eltern, deren halbwüchsige Töchter das Land im aufreizenden Look durchstreifen, fühlen sich durch die Zuwanderinnen in ihren antimodischen bodenlangen schwarzen Gewändern unbewußt provoziert. Kopftuch und Kinderschar steigern Antipathie zu Aggression. Der Anblick der vorderasiatischen Kopftuchfrauen rührt an Verdrängtes, an zutiefst Vorbewußtes, ruft im chromblitzenden HighTech-Deutschland unserer Tage Assoziationen hervor, die seinem Bewußtsein ("Kleinanleger mit hoher Gewinnerwartung") unsäglich erscheinen.

Unerträglich sind ihm die von den Kopftuchträgerinnen evozierten Urbilder eines ländlich-vorindustriellen Deutschland, eines in östliche Grundherrschaften, in sarmatische Ebenen sich weitenden, unerträglich das romantisch-seelenvolle Kontrastreich mit seinen Pferdekarren, Herbstmanövern, Kartoffelfeuern, pausbäckigen Mägden, den Blondschöpfen unterm Kopftuch; unerträglich sind ihm aber auch die archetypischen Schreckensbilder der Flüchtlings- und Trümmerfrauen (unvergeßliche deutsche Film-Ikone: die Kopftuch-Knef in Staudtes "Die Mörder sind unter uns"), die Kopftücher der "Ostarbeiterinnen", aller Kopftuchfrauen, in denen sich gleichsam das ganze Elend der neueren deutschen Geschichte symbolisiert.

Die heutige Kopftuch-Aversion speist sich allenfalls nicht zuletzt aus solchen vorbewußten Ängsten, Urbildern und irrationalen Anmutungen, die aus einem ehedem bzw. anderwärts "politisch" unbefrachteten Kopfschmuck einen Fetisch haben werden lassen. Mit der Juridifizierung des Politischen geht die Politisierung des Ästhetisch-Symbolischen einher: Die Stilisierung des Kopftuchs islamischer Frauen zum Inbild des Illiberalismus fügt sich ins Bild eines gleichsam neototalitär depravierten Spätliberalismus, der seinerseits "fundamentalistisch" anmutende "innerstaatliche" Feinderklärungen abgibt - gegen alles, was nicht Fleisch von seinem Fleisch zu sein scheint.


 
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