© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/02 30. August 2002

 
Pankraz,
Indira Gandhi und die Sixtinische Madonna

Die schönen Kunstschätze", seufzte ein Mann in Dresden während des Höhepunkts der Flut, als noch jede Zuspitzung möglich schien. "Aber die Rettung von Menschenleben hat natürlich Vorrang", fügte er schnell hinzu, als hätte ihm jemand unterstellt, er behaupte das Gegenteil (er sprach mit dem Europasender Arte).

Gottlob kam es nicht zu "Grenzsituationen", wo es tatsächlich um Kunst oder Leben gegangen wäre. Vorstellbar waren solche Entscheidungen allemal. Da ist das THW-Kommando, das zur Rettung der Sixtinischen Madonna oder des Pinturicchio-Knaben in der Gemäldegallerie unterwegs ist und für das faktisch jede Sekunde zählt. Und da ist der alte, besoffene Krauter im Erdgeschoß des Altbaus, der sich mit Händen und Füßen dagegen wehrt, aus der Wohnung herauszugehen, obwohl ihm das Wasser schon um die Pantoffeln schwappt. Das Kommando will den Alten im Vorbeifahren retten, aber der wehrt sich, beschimpft die Retter in unflätigster Weise, strampelt und schlägt um sich, so daß kostbarste Minuten verstreichen. Was hier tun?

Wenn sich das Kommando aufhalten läßt, ist die Sixtinische perdu, doch wenn es weiterfährt, ersäuft der Alte und ein Menschenleben ist im Namen der Kunst preisgegeben. Die moralische Option zugunsten des Alten scheint eindeutig und notwendig. Wie sieht es aber aus, wenn der gewaltsam gerettete Alte gleich darauf in blinder Wut seine Frau erschlägt? Da ist ein Menschenleben verloren und die Sixtinische dazu, und der rabiate Alte säuft sich in kürzester Frist ebenfalls zu Tode.

Und was ist mit der Würde der Kunst, die bei der Aktion so hoffnungslos auf der Strecke blieb? Kunstwerke von der Art der Sixtinischen Madonna oder des Pinturicchio-Knaben sind ja keineswegs einfach tote Dinge, die äonentief unter dem Existenzrecht von Einzelmenschen rangieren. In ihnen sind mannigfaltigste Lebensphänomene akkumuliert: Der bedingungslose Einsatz des Künstlers, der sie einst schuf, die Erschütterung der Betrachter, deren ganze Existenz unter Umständen von dem Erlebnis dieser Kunstwerke geprägt werden mag, das Schicksal der Werke selbst durch die Jahrhunderte, mit dem viele konkrete Lebensschicksale früherer Bewahrer und Retter verbunden sind. Soll das alles keine Rolle spielen bei der moralischen Bewertung?

Pankraz erinnert sich an die, später ermordete, indische Ministerpräsidentin Indira Gandhi, eine höchst imposante, sowohl von westlichen wie asiatischen Humanismus-Idealen tief geprägte Frau, die sich standhaft weigerte, die Genehmigung zum Abschuß von Königstigern zu geben, die Menschen angefallen hatten, sogenannten Menschenfressern. "Wir haben bei uns in Indien so viele Menschen und so wenige Königstiger", argumentierte Frau Gandhi. "Und wie häßlich sind die meisten Menschen, und wie schön ist der Königstiger!"

Hier kam also das ästhetische Argument zum Tragen und wurde gegen das moralische ausgespielt. Die Würde hat etwas mit Schönheit, Erlesenheit und Seltenheit zu tun. Wer das Schöne, Erlesene und Seltene auslöscht, der begeht ein Verbrechen an Gottes Schöpfung, auch wenn er dafür noch so gute Gründe ins Feld führt.

Jener hämische und verstockte Alte aus der vorgestellten Dresdner Grenzsituation ist weder schön noch erlesen noch selten. Was er einzig für sich aufrufen kann, ist sein unbezweifelbares Menschsein, sein pures, nacktes Menschsein, eine angestrengte Abstraktion, die zu respektieren viel Theologie respektive Philosophie erfordert.

In jedem Menschen, lehrt Kant, müssen wir Gott achten, den Inbegriff der Moral und der Sittlichkeit, ohne die kein geordnetes Zusammenleben möglich ist. Der Mitmensch mag sich in seinem momentanen Verhalten noch so unwürdig aufführen, noch so widrigen Antrieben folgen, ich meinerseits erkenne hinter seinem Benehmen stets die Potentialität seines Würdigseins. Ich tue auch noch in den verzweifeltsten Fällen so, als ob der andere zur Würde fähig wäre, und zwar, weil nur so, unter der Voraussetzung dieser Annahme, ich selbst würdig bleibe, Mensch bleibe. Ich habe nur Teil am Sittengesetz, so weit es dieses als allgemeines wirklich gibt, und es kann es als solches nur geben, wenn jeder einzelne Mensch ebenfalls daran teilhat.

Wie gesagt, eine schwierige Abstraktion, fast eine Zumutung. Viele Nachdenker haben sich denn auch schon gefragt, ob das Sittengesetz seinen Adressaten wirklich einzig und allein im aktuell lebenden Menschen finde, ob nicht auch andere lebende Kreatur dazugehöre oder auch "geronnenes Leben", also beispielsweise Kunstwerke von höchster Qualität und Akzeptiertheit. Indes, läßt man den moralischen Bezug auf die aktuell lebenden Menschen sausen, öffnet ihn für andere Bezugspartner, so gerät man über kurz oder lang in heillose Verstrickungen, wird unversehens zur Selektionsinstanz und zum angemaßten Herrn über Leben und Tod. Das wäre wohl nicht einmal die Sixtinische Madonna wert.

Ein Stachel aber bleibt. Wenn mein nacktes Leben, so müßte sich jetzt eigentlich jeder Flut-Überlebende sagen, in gewissen Situationen mehr wert ist als die Sixtinische Madonna, dann will ich künftig auch dafür sorgen, daß sich dieser Wert in meinem konkreten Verhalten abbildet, wenigstens will ich mir dementsprechend Mühe geben, nicht nur beim Reparieren oder Wiederaufbau des Häuschens, sondern auch beim Umgang mit den Mitmenschen. Alles Wertmindernde, jede Billiglösung, jede Massenproduktion, jedes häßliche Design sollte in Zukunft vermieden werden.

Die Katastrophe sollte also nicht nur als Schlammlieferant in der Erinnerung gehalten werden, sondern auch und mehr noch als reinigender, die Seelen reinigender Spülvorgang. Damit wäre wirklich viel gewonnen. Natürlich würde nicht jeder gleich so schön wie ein Königstiger, doch ein honetter Pudelverschnitt ist auch nicht zu verachten.


 
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