© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/02 23. August 2002

 
Gefängnisseelsorge: Pater Vincens - seit 30 Jahren in Deutschlands größtem Gefängnis
Kugelblitz im Einsatz
Georg Alois Oblinger

Es gibt einen Ort, den kaum jemand freiwillig aufsucht: das Gefängnis. Ein Mann jedoch geht seit nunmehr 30 Jahren täglich freiwillig dorthin: Pater Vincens SDS (Salvatorianer), der Gefängnisseelsorger der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel, mit 1.750 Insassen die Anstalt mit den meisten Strafgefangenen in der Bundesrepublik Deutschland.

Der 72jährige Salvatorianerpater hat einen großen Bekanntheitsgrad erlangt durch seine TV-Auftritte in diversen Talkshows (zum Beispiel bei Margarethe Schreinemakers). Er selbst bezeichnet sich als "Kugelblitz", und damit beschreibt er nicht nur seine körperliche Erscheinung, sondern auch sein Temperament. Pater Vincens ist nicht nur Seelsorger für die Gefangenen und Bediensteten der JVA, sondern auch Seelsorger für den Kreuzbund sowie Notfallseelsorger und Mitarbeiter in der Militärseelsorge. Für sein enormes Engagement hat er schon zahlreiche Auszeichnungen erhalten, unter anderem das Bundesverdienstkreuz und den Verdienstorden des Landes Berlin.

All dies läßt sich der Pater jedoch keineswegs anmerken. Er wirkt sehr bescheiden und empfängt die Redakteure der JF in einem einfach eingerichteten Wohnzimmer mit zahlreichen Büchern. Die Wände sind geschmückt mit religiösen Bildern und Skulpturen, die Gefangene für ihn angefertigt haben. Er trägt ein Hemd mit römischem Priesterkragen, oftmals auch die Soutane, das bodenlange Gewand des katholischen Geistlichen. Seine prägnante Sprache und sein bestimmender Ton lassen erkennen, daß es sich um einen Mann mit klaren Grundsätzen und einem gefestigten Weltbild handelt. Ein Vollblutpriester!

Seine Berufung verspürte er schon mit 17 Jahren, machte dann aber auf Wunsch seiner Mutter eine Ausbildung im elterlichen Transportgeschäft. Als Spätberufener empfing er 1966 die Priesterweihe von Kardinal Alfred Bengsch, den er noch heute als sein großes Vorbild betrachtet. In der JVA-Tegel ist er seit dem 1. September 1972 und wird dort zum 1. September 2002 aus Altersgründen seinen Dienst quittieren.

Mit 130.000 Quadratmeter ist die JVA-Tegel etwa so groß wie 14 Fußballfelder. Sie bietet eigentlich Platz für 1.400 Gefangene, ist derzeit aber stark überbelegt. Unter den Inhaftierten sind alle Freiheitsstrafen und sämtliche Delikte vertreten. Den Ausländeranteil gibt die JVA mit 35 Prozent an. Pater Vincens sagt: "45 bis 50 Prozent! Die Statistiken sind doch alle geschönt. Sie müssen mal die Presse lesen. Da heißt es bei Straftaten heute nur: 'ein Mann'. Früher hieß es 'der Türke D.' oder so. Sowas wird gar nicht mehr geschrieben. Das ist eine falsche Politik in Deutschland."

Einer der prominentesten Häftlinge, die Pater Vincens betreute war Till Meyer, Terrorist der "Bewegung 2. Juni" in den siebziger Jahren. "Früher waren viele Linke hier. Die wußten genau, sie sprechen nicht von Marx und ich nicht vom lieben Gott. Da waren klare Verhältnisse." Heute hat es der Pater auch häufiger mit sogenannten Rechten zu tun. "Die sind ganz brav und artig. In der Regel halten sie sich an die Ordnung." Auf politische Diskussionen läßt sich Pater Vincens allerdings nicht ein, für ihn zählt die Seelsorge am Menschen. "Da schaue ich nicht auf links oder rechts ... Draußen führe ich schon politische Gespräche, aber nicht hier drin."

Wichtig ist dem Gefängnisseelsorger, daß die Kirche ein neutraler Ort ist - gerade auch bei Auseinandersetzungen. "Die Kirche hat einen großen Vertrauensvorschuß." Und das Vertrauen des Paters wurde auch noch nie enttäuscht. "Die Gefangenen werden die Kuh, die sie melken, doch nicht schlachten."

Das schwierigste Klientel sind für Pater Vincens die Drogenabhängigen, schätzungsweise 900 von 1.750 Insassen. "Die kommen aber schon so hierher, die werden nicht erst so. Hier kommen sie natürlich wieder an den Stoff heran. Das sind riesengroße Räume, die nicht kontrollierbar sind."

Die seelsorgerliche Arbeit von Pater Vincens umfaßt den Gottesdienst an Sonn- und Feiertagen, Andachten in den geprägten Zeiten sowie religiöse Einzelgespräche (Lebensberatung, Konfliktberatung, Krisenintervention, Beichte). So betreut der Pater die katholischen und orthodoxen Christen sowie einen Teil der Ungetauften - insgesamt circa 300 Personen. Wichtig ist dem Pater, daß sein Angebot völlig frei angenommen wird. "Die können kommen, müssen aber nicht. Jesus hat das Urmodell dieser Freiheit vorgelebt." Trotzdem hat der Gottesdienst in der JVA mit ungefähr 65 Teilnehmern eine überdurchschnittliche Resonanz. Gefangene verrichten hierbei den Ministrantendienst. "Auch Mörder sind dabei - das ist kein Problem." Vor den Feiertagen gehen etwa 45 Häftlinge zur Beichte - bei fünf verschiedenen Geistlichen.

Ein Problem, aber auch eine Chance ist für viele Gefangene die Einsamkeit in der JVA. "Einsamkeit kann auch heilsam sein. Viele fragen dann nach einer Bibel." So sind gerade Gefangene oft religiös ansprechbar. "Ist die Not am größten, ist Gott am nächsten." Auch besuchen zwischen fünf und zehn Häftlinge den einjährigen Katechumenatskurs zur Vorbereitung auf die Taufe. Doch nur etwa einer hält durch und läßt sich dann auch taufen.

Allerdings muß Pater Vincens auch Enttäuschungen erleben: Ungefähr 60 Prozent der entlassenen Strafgefangenen werden rückfällig - meist nach drei bis fünf Jahren. Manchmal sind auch einige von Pater Vincens' treuen Kirchgängern dabei. Er begrüßt sie dann mit den Worten: "Ich freue mich, daß ich dich sehe. Schade nur, daß es hier ist."

Die Leistung von Pater Vincens und sein Ansehen bei Gefangenen wie Bediensteten der JVA lassen erkennen: Hier ist einer, der lebt, was er sagt.


 
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