© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/02 23. August 2002


Toleranz braucht Tugend
von Theo A.W. de Wit

Zu Anfang des Jahres 1999 war im niederländischen Fernsehen ein Spot der Stiftung Tolerance Unlimited zu sehen. Der Zuschauer erlebt nacheinander einen alten Martin Luther King, die inzwischen 69jährige Anne Frank, Steve Biko in mittlerem Alter und John F. Kennedy im Rollstuhl. Nachdem sie kurz erzählt haben, was sie bewegte und immer noch bewegt, lesen wir einen Zwischentext: "In einer toleranten Welt wären diese Menschen nicht ermordet worden."

Schließlich tritt auch noch ein springlebendiger Joes Kloppenburg in Erscheinung: Kloppenburg, ein junger Mann, der ein Jahr zuvor bei einem Vergnügungsabend von einigen Passanten "einfach so" zu Tode getreten worden war. Die erwähnte Stiftung wendet sich vor allem an Jugendliche und möchte "Toleranz, Solidarität und Verständnis unter Jugendlichen aus unterschiedlichen ethnischen, kulturellen und religiösen Gemeinschaften" fördern, unter anderem vermittels sogenannter tolerance-teams, die Schulen besuchen, um mit den Schülern über rassistisches und intolerantes Verhalten zu diskutieren.

Hat man diesen Spot einige Male gesehen, so stellt sich neben der Sympathie für die Absichten der Hersteller auch eine Art Befremdung in Bezug auf deren zentrale Botschaft ein. Toleranz, so scheint es jedenfalls, wird hier nämlich nicht allein als moralische und/oder politische Tugend präsentiert, die in multiethnischen Gesellschaften tatsächlich von großer Wichtigkeit ist, sondern auch als idealer oder utopischer Zustand: "eine tolerante Welt". In so einer Welt würden Menschen wie Frank, King und Biko wegen ihrer Ideale nicht ermordet werden, sondern einen verdienten Lebensabend verbringen. Und wer würde ihnen das nicht gönnen?

Und doch setzen hier Fragen ein. Wie müssen wir uns eine "tolerante Welt" eigentlich vorstellen? Würden sich Menschen wie King, Bilko und Frank dort noch erheben? Oder wären sie eher überflüssig? War eine "tolerante Welt" auch ihr eigenes Ideal? Daran läßt sich zweifeln. Nehmen wir King als Beispiel. Als Antwort an die weißen evangelischen Pfarrer, die ihn beschworen hatten, sich zurückzuhalten und seine Kampagnen des bürgerlichen Ungehorsams nicht weiter fortzusetzen, hielt er ihnen die fatalen Folgen vor, welche die existierende Segregation für seine Kinder habe und beendete seine Darstellung mit den Worten: "Ein zu langes Aufschieben der Gerechtigkeit bedeutet das Aufheben der Gerechtigkeit." Sicher würde Toleranz in der Welt, die Martin Luther King vorschwebte ("I have a dream"), eine wichtige Rolle spielt, würde nicht die Gerechtigkeit seine erste Sorge sein?

Wie aus dem Interview mit einem der Initiatoren hervorgeht, will Tolerance Unlimited uns zum Nachdenken über Toleranz bringen. Was ist Toleranz eigentlich? Laut dem modernen Philosophen Paul Ricoeur ist sie "das Ergebnis einer Form von Askese bei der Ausübung der persönlichen oder öffentlichen Macht." Sie ist eine individuelle und kollektive Tugend, die darin besteht, nicht einzugreifen, zu intervenieren oder zu verhindern, von bestimmten Forderungen abzusehen, obwohl das in unserer Kraft liegt. Und sie erfordert zudem einen "asketischen" Umgang mit der eigenen Überzeugung im Verhältnis zu anderen.

Intoleranz hat demzufolge zwei Aspekte: das Vermögen, handelnd aufzutreten und auf diese Weise den anderen daran zu hindern, sein Leben so zu führen, wie er möchte, und die Rechtfertigung hiervon durch die prätendierte exklusive Legitimität der eigenen Überzeugung und die Abweisung derjenigen des anderen.

Das Paradigma der Intoleranz ist für uns Abendländer häufig noch immer das Modell, das wir von den Religionskriegen kennen. In diesem Modell sind Kirche und Staat ,"zwei Hände auf einem Bauch": die Kirche gibt dem Staat die Weihe der Wahrheit und Legitimität, während der starke Arm des Staates wiederum den Bekundungen der kirchlichen Macht seine Sanktionen erteilt. Dagegen richtete sich der Diskurs der Toleranz aus dem siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert, und dagegen richten sich heutzutage noch jene, die uns vor Fundamentalisten und vor religiösen Fanatikern warnen. Doch die Frage lautet, ob das die einzige Gefahr ist, die der Toleranz droht. Eine zweite Gefahr könnte man "Trivialisierung der Tole-ranz" nennen.

Darüber läßt sich bei Ricoeur einiges lernen. Er hat eine Art Toleranzkurve aufgestellt, eine Beschreibung der diversen Stadien von einer minimalen bis zur maximalen Toleranz. Bei der minimalen Toleranz wird von der Macht zu verhindern abgesehen, nicht jedoch von dem Anspruch, andere zu verurteilen. So bedeutete das Edikt von Nantes (1598) zwar einen Bruch mit dem sakrosankten Grundsatz "ein Glaube, ein Gesetz, ein König", doch die beiden christlichen Konfessionen, die nun in einem gemeinsamen politischen Kontext zusammenlebten, taten dies widerwillig und nannten sich gegenseitig Ketzer. Sie wurden von einer dritten Partei zum Zusammenleben gezwungen. Im zweiten Stadium beginnt sich etwas in dieser Verurteilung zu verändern. Es spalten sich die Bindung an meine eigene Wahrheit und die Bereitschaft, etwas vom anderen zu begreifen - von seiner Art zu denken, handeln und leben.

Der entscheidende Schritt zum Pluralismus geschieht im dritten Stadium. Hier toleriere ich den anderen nicht mehr von meiner Position her, sondern auf der Grundlage des Rechts auf ein selbstbestimmtes Leben. Toleranz wird hier auf die Grundlage der wechselseitigen Anerkennung eines symmetrischen Rechtes gestellt. Durch das Auseinanderfallen von Wahrheit und Gerechtigkeit werden die Grundfreiheiten ermöglicht: die Religionsfreiheit, die Meinungsfreiheit, Redefreiheit bis hin zum passiven und aktiven Stimmrecht.

Und während man sagen kann, daß diese Freiheiten in einem demokratischen Staat die praktische Verwirklichung der Toleranz sind, bleibt sie dennoch eine Tugend des Individuums und vor allem der Institutionen. Denn die gleiche Freiheit eines jeden ist nichts anderes als das stets wiederholte Gelöbnis jedes Bürgers. Der Status des Staatsbürgers muß mit den Bürgerrechten als moralischer Praxis verbunden bleiben. Wer die Toleranz als ethische Praxis zurückweist und gleichzeitig den Schutz, den die Bürgerrechte bieten, ausnutzt, untergräbt den Rechtsstaat.

Im vierten Stadium erreicht die Toleranz ihren Höhepunkt und zugleich Umschlag und Wende. War die Toleranz eben noch polemischer Art ("Ich verurteile Ihre Lebensweise, doch ich respektiere Ihre Freiheit, zu leben, wie Sie es für richtig halten"), so bestätige ich jetzt die genannte Differenz von Wahrheit und Gerechtigkeit durch Zweifel an den eigenen Wahrheitsansprüchen. Niemand kann jetzt noch beanspruchen, im Besitz der ganzen Wahrheit zu sein. Jede menschliche Vorstellung wird als endlich erkannt. Und ist es nicht der Kern des Absoluten in religiöser Hinsicht, daß es sich jeglicher Aneignung entzieht? Ich muß demnach die Askese aufbringen, die Überzeugungen des anderen weder zu bejahen, noch zu verurteilen.

Interessant ist nun, daß Ricoeur noch ein fünftes Stadium nennt, in dem die Toleranzkurve ihren Scheitelpunkt hinter sich gelassen hat und eine sinkende Linie aufweist. Das Motto lautet nun: "Ich billige alle Lebensweisen, solange sie Dritten keinen Schaden zufügen. Es lebe der Unterschied!" Am auffallendsten ist hier - und Ricoeur verweist einige Male auf die "postmoderne Gesellschaft" -, daß die Toleranz nicht länger als asketische Tugend betrachtet werden kann, weil alles ja von gleichem Wert ist.

Ricoeur stellt der "toleranten" Gleichgültigkeit einen neuen Begriff gegenüber, das nicht Duldbare (l'into-lerable). Demzufolge sind unwürdige oder verächtliche Verhaltensweisen nicht duldbar, die den Rechtsstaat, das heißt die Ausübung der Toleranz, selbst angreifen oder bedrohen, oder den anderen versehren und ihm Schaden zufügen.

Wir erhalten eine Verantwortung gegenüber dem Verletzbaren. Als allererstes natürlich gegenüber dem Kind, doch beispielsweise auch gegenüber der Demokratie, die verletzbar ist, weil sie über keine transzendente Legitimation mehr verfügt und nur auf dem allgemeinen Willen beruht. Laut Ricoeur sollen wir demnach nicht hinter die mühsam erkämpfte Toleranz des dritten Stadiums, des Rechtsstaates, zurückfallen. Auffallend an seiner Herangehensweise ist jedoch, daß ihm zufolge die Verteidigung des Rechtsstaates nicht ausreicht, um ein "Verlernen" der Toleranz zu vermeiden.

Die Toleranz als Tugend wird gegenwärtig durch zwei entgegengesetzte Gefahren bedroht. Die eine besteht darin, daß Toleranz zur Gleichgültigkeit verflacht und ein moralische Urteil unmöglich macht, die andere wäre, daß die Empörung über das "nicht Duldbare" kein Maß zu halten vermag und die Toleranz bedroht. Im ersten Fall wird die Toleranz grenzenlos ("tolerance unlimited"), im zweiten Fall wird die moralische Empörung maßlos.

Dem französischen Philosophen Alain Finkielkraut zufolge droht sich die Toleranz in unserer Epoche unter dem Namen "Multikulturalismus" zum höchsten Wert auszuweiten. Sie ist dann keine Tugend mehr im Sinne Ricoeurs, sondern universale Wahrheit und das Kriterium, über das Intoleranz in Gegenwart und Vergangenheit angeprangert wird. Dieser neue Status der Toleranz ist die letzte Konsequenz einer Politik, die kulturelle Unterschiede anerkennen will und dabei kulturrelativistisch vorgeht. Sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in Europa gibt es laut Finkielkraut eine Tendenz, Kultur als Ausdruck einer Identität aufzufassen, so daß die Welt der Kulturen als eine Art "Vereinigte Nationen von Identitäten" begriffen wird. Anschließend - und hier verbirgt sich die kulturrelativistische Prämisse - wird die Behauptung aufgestellt, daß alle diese Identitäten das Recht auf Anerkennung haben. Als Beispiel nennt er die "Kanon"-Diskussion in den Vereinigten Staaten.

Dort hat eine bestimmte Form von Multikulturalismus in der akademischen Welt den Angriff auf dasjenige eröffnet, was als die Vorherrschaft und Arroganz der sogenannten weißen Männer und ihres Kanons der "dead white males" angesehen wird. Das Ergebnis ist eine Reihe neuer Studienfächer: women's studies, African-American studies, native American studies, gay and lesbian studies. Damit ist "Western philosophy" nun in dieser Reihe.

Auf den ersten Blick scheint das vielleicht ein großer Schritt vorwärts zu sein im Sinne wahrhaftiger Universalität. Doch durch Bezeichnungen wie "der Kanon toter, weißer Männer" oder "Western philosophy" wird ein äußerst heterogener Kreis von Denkern als repräsentativ für eine scheinbar homogene Einheit und Identität gesehen. Und diese Form von multikultureller Toleranz kann äußerst intolerante Folgen haben.

Der von Finkielkraut angegriffene Kulturrelativismus beginnt mit der Toleranz und endet mit einer rigorosen Veruteilung von allem und jedem in Vergangenheit und Gegenwart, das dieser Norm nicht Genüge leistet. Es ist eine andere Tyrannei als die des
17. Jahrhunderts, aber eine Tyrannei ist es allemal. (...)

Heutzutage existiert eine weitverbreitete Einsicht, daß es in einer wirklich global gewordenen Welt mehr denn je unsere Aufgabe ist, mit der Vielheit zu leben: die Vielheit von Ethnien, kultureller Unterschiede und religiöser Bindungen, die Pluralität der Stimmen, Interpretationen und Perspektiven. Wir müssen lernen, diese babylonische Welt, diese Wucherung von Wertsystemen, die nebeneinander existieren und einander überkreuzen, als unsere Heimat anzunehmen: "Heimat Babylon" lautet der Titel eines Buches über die multikulturelle Gesellschaft.

Toleranz ist in einer solchen Gesellschaft selbstverständlich eine der tragenden Tugenden. Es zeigt sich jedoch, daß die Toleranz, solange sie als eine politische und moralische Tugend aufgefaßt wird, von starken moralischen Überzeugungen abhängig bleibt. Wenn das nicht länger der Fall ist, wird die Toleranz sozusagen instabil, sie versandet in Gleichgültigkeit und Trivialität oder entgleist in neue Formen von Intoleranz. Häufig ist zu beobachten, daß beide Erscheinungen gleichzeitig auftreten.

Bei einer wachsenden Gleichgültigkeit angesichts der Frage nach dem Guten und Wahren nimmt die Toleranz nicht in selbstverständlicher Weise zu. Ihre Wurzel ist ebenso sehr die Freiheit wie die Suche nach Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Es ist verständlich, daß man seit den konfessionellen Bürgerkriegen in Europa inmitten der Gegensätze, Kontraste und Inkompatibilitäten eine möglichst neutrale Größe, ein tertium comparationis, sucht, das die Gegensätze übersteigt und Frieden garantiert.

Hieraus ist jedoch ein fatales Mißverständnis in Bezug auf die Toleranz entstanden. Die französische Philosophin Jeanne Hersch hat das einleuchtend formuliert. Das Mißverständnis besagt, daß "das Absolute, was auch immer es sei, der Feind der Toleranz ist", und daß einer Menschheit, die sich auf die rationalen und empirischen
Sicherheiten der Wissenschaften verläßt, Frieden und Toleranz gewiß sind.

Zuletzt gibt es allerdings nur eine Alternative: leben oder sterben. Doch damit ist die Menschheit auf ein animalisches Niveau reduziert. Vielleicht würde die Intoleranz hier ihre Triebfeder verlieren, doch das beträfe genauso die Toleranz.

 

Der Text haben wir mit freundlicher Genehmigung des Autors aus dem Heft 16 der Etappe, Zeitschrift für Politik, Kultur und Wissenschaft, Bonn 2002, entnommen.


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