© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/02 23. August 2002

 
Vom Aufstand der toten Dinge
Das Jahrhunderthochwasser hat die Menschen wieder an längst vergessene Tugenden erinnert
Günter Zehm

Wenn die Toten beklagt und die Schäden gezählt sind, kommt allmählich der Appetit auf historische Einordnung. Mit welchem Ereignis der Vergangenheit läßt sich die gegenwärtige Katastrophe vergleichen? Gab es je größere? Ist sie Moment kontinuierlicher Unheilsteigerung, Vorbote noch grausamerer Verheerungen? Oder gar - unbehaglicher noch zu denken - Symbol einer prinzipiellen, unaufhebbaren Ausgeliefertheit des Menschen an die "rohen Naturgewalten", Aufforderung zur bedingungslosen Kapitulation?

In dem Buch "Spuren" von Ernst Bloch aus dem Jahre 1930 gibt es faszinierende Überlegungen über die "Rückseite" der toten, also unbelebten, transbiologischen Dinge, die hierher gehören. Vielleicht sind diese Dinge doch nicht ganz so tot, wie wir uns das üblicherweise einbilden. Vielleicht kehren sie uns voller Ironie ihre nur scheinbar tote, bequem begehbare Rückseite zu, um uns in Sicherheit zu wiegen und umso unvermuteter zuschlagen zu können.

Da ist die Sindbadgeschichte aus Tausendundeiner Nacht, wo sich Schiffbrüchige auf eine hübsche kleine Palmeninsel retten, auf der es köstliche Früchte gibt, zwitschernde Vögel, jagdbares Rehwild im Wald und einen Quell dortselbst. Wie aber die Schiffbrüchigen ein Feuer machen, um sich an ihm zu wärmen und ein Reh zu braten - siehe, da krümmt sich der Boden, und die Palmen zersplittern. Denn die Insel war der Leib eines riesigen Kraken. Jahrhundertelang hatte er über dem Meeresspiegel geruht, nun brannte das Feuer auf seinem Rücken, und er tauchte unter, "so daß alle Schiffer ertranken".

"Kein Mensch weiß", schreibt dazu Bloch, "woraus der Rücken der Dinge besteht, den wir allein sehen, gar ihre Unterseite, und worin das Ganze schwimmt. Man kennt nur die Vorderseite oder Oberseite ihrer technischen Dienstwilligkeit, freundlichen Eingemeindung; niemand weiß auch, ob ihre Idylle, Lockung, Naturschönheit, das ist, was sie verspricht oder zu halten vorgibt und ob sie in Ewigkeit gutmütig mitspielt."

Von der lebendigen Natur wissen wir inzwischen, daß sie immer weniger mitspielt, sich immer weniger in Frondienste einspannen läßt. Aber sie ist sichtbar auf der Verliererseite; ihr bleibt nur übrig zu sterben, auszusterben, sich in tote Dinge zu verwandeln. Nicht der Aufstand der lebendigen Natur, sondern erst der Aufstand der toten Dinge könnte die Raubbau treibenden Menschen zur Räson bringen, sie zum Einhalten zwingen, bevor sie sich selbst in tote Dinge verwandeln.

Wer sagt denn, daß die toten Dinge uns nichts tun können? Sie können uns sogar sehr viel tun, und sie werden es tun, immer wieder und mit wachsender Vehemenz. Jedes einzelne Erdzeitalter ist bisher von toten Dingen beendet worden, von Meteoriteneinschlägen, Magma-Eruptionen, Erdbeben, vor allem von Sintfluten, von Phänomenen, die zwar tot sind, aber nicht vergehen, nicht unsterblich sind, aber immer vorhanden, und auf deren Rücken sich Leben und Zivilisation allenfalls in hauchdünner Papierstärke ausgebreitet haben.

Etwas von dem Bewußtsein, daß wir uns in all unserem Hochmut permanent auf einer papierdünnen, leicht zerreißbaren Oberfläche bewegen, war faktisch jedem Sandsackträger von Dresden oder Mühlberg anzusehen. Wie grob er auch schuftete, er tat es mit stets wahrnehmbarer Zartheit und solidarischer Rücksichtnahme, so als bewege er sich auf der Arche Noah, wo alle Lebendigen, ob Mensch oder Tier, ganz eng aufeinander angewiesen sind.

Unvergeßlich das Fernsehbild von dem THW-Mann, der für einen Augenblick das Ruder des Schlauchboots beiseite legte, um ein verängstigtes, schon total durchnäßtes Häschen von der bereits dreiviertel überschwemmten Böschung wegzunehmen und vor der Flut zu retten. Natürlich war das kein typisches Bild, es wurde konterkariert durch viele banale, eher verdrießliche Szenen, bei denen verfrüht über angeblich ausbleibende oder zu geringe Versicherungs-Zahlungen usw. gezetert wurde. Doch unterm Strich überwog das Arche-Noah-Szenario. Man erkannte, wie viel Hilfsbereitschaft und Einsatzfreude in den Menschen lebt, wie sehr sie in ihrem normalen Alltag moralisch unterfordert werden.

Sehr sympathisch auch die so glaubhaft und intensiv bezeugte Sorge um die schöne Stadt. Noch vor jedem Barmen über persönliches Ungemach und private Verluste kam das Sprechen über die Gefahr, die der Stadt, der Polis, und ihren Herrlichkeiten drohte, und wie man ihr begegnen könne. Das betraf nicht nur das prächtige Dresden, sondern auch Städtchen wie Grimma, an denen für Außenstehende an sich nichts Besonderes ist, die aber von ihren Bewohnern nach der Wende mit großer Mühe in ein schmuckes Gemeinwesen verwandelt wurden und die ihnen nun teuer sind.

Ein schon fast verschüttetes Gefühl für Heimatlichkeit meldete sich zurück. Die Heimat, verspürte man, ist kein beliebiger Ort, an dem man zufällig geboren ist oder an dem man allerlei Erinnerung und Gerümpel angehäuft hat, sondern sie ist "der Ort an sich", eine metaphysische Einheit, in die man sich eingebunden weiß, der man in Liebe verbunden ist und für die man einsteht, auch wenn es Opfer fordert und Risiken birgt.

Beinahe am eindrucksvollsten aber: Nirgendwo wurde das entfesselte Element, das so viel Verheerung angerichtet hat, als solches beschimpft oder angeklagt, niemand sprach verächtlich oder haßerfüllt von ihm, niemand sagte: "Jetzt ist endgültig Schluß mit dem Siedeln am Fluß und in Wassernähe, jetzt ziehen wir weg in trockene, friedlichere Gegenden." Man zeigte vielmehr größtes Verständnis für die neptunischen Gewalten, nahm alle Schuld auf sich, versprach, sich in Zukunft noch sorgfältiger und ingeniöser um friedliche, alle Seiten befriedigende Ablaufmöglichkeiten zu kümmern.

Technische Überheblichkeit trat nicht hervor in diesen Tagen, doch auch kein Fatalismus, keine neue Natur-Unterwürfigkeit. Statt dessen regierte hörbar das Goethesche "Mut wird freier, / Blut wird neuer, / Heil dem Wasser, heil dem Feuer". Auch war man sich der Exzellenz des Augenblicks und des historischen Datums bewußt. "Und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen". Jeder erahnte: Hier war etwas, das man seinen Enkeln noch erzählen kann, wenn niemand mehr von Schröder und Stoiber sprechen wird, ja, wenn man diese gar nicht mehr kennt.

Und um auch noch das zu sagen: Um den Wiederaufbau der zerstörten Fluren sollte sich niemand Sorgen machen. Alles wird genau so schön, wenn nicht schöner, wiedererstehen, so wie es ja auch nach der letzten großen Dresdner Flut im Jahre 1845 der Fall war. Ob das aus dem Zusammenstehen in der Katastrophe erwachsene Gemeinschaftsgefühl vorhalten wird, ist indessen eine andere Frage.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen